Die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) hat die S2e-Leitlinie „Diabetes und Straßenverkehr“ aktualisiert. Die neue Fassung bringt frischen Wind in die Bewertung der Fahreignung für Menschen mit Diabetes und fordert eine Anpassung von veralteten berufs- und verkehrsrechtlichen Vorgaben. Moderne Diabetestechnologien und Medikamente, die keine Unterzuckerungen verursachen, erhöhen die Sicherheit im Straßenverkehr deutlich und schaffen neue berufliche Perspektiven für Betroffene.
Was ist neu?
Die Leitlinie betont, dass die Zahl schwerer Hypoglykämien dank moderner Technik und Schulung deutlich gesunken ist. Menschen mit Typ-2-Diabetes nehmen heute meist Medikamente ohne Unterzuckerungsrisiko. Insulinpflichtige Betroffene profitieren von Systemen zur kontinuierlichen Glukosemessung (CGM) und automatisierter Insulinabgabe (AID). Dr. med. Friedrich W. Petry, Mitautor der Leitlinie, betont, dass die Fortschritte in der Diabetestechnik und Therapie die Stoffwechselkontrolle grundlegend verändert haben.
„Erhöhte Glukosewerte allein führen nicht zu einer eingeschränkten Fahreignung. Entscheidend ist vielmehr die Frage, ob Konzentration, Aufmerksamkeit oder Sehen beeinträchtigt sind.“
Dr. med. Friedrich W. Petry
Die neue Leitlinie empfiehlt klare Regeln für den Alltag: Vor Fahrtantritt Glukosewert prüfen, bei kritischen Werten die Fahrt unterbrechen und Warnfunktionen am CGM aktivieren. Für die berufliche Teilhabe fordert die DDG, alle berufsrechtlichen Vorgaben an den aktuellen Stand der Diabetologie anzupassen. Individuelle Risiken und Kompensationsmöglichkeiten sollen stärker berücksichtigt werden.
„Pauschale Ausschlüsse allein aufgrund der Diagnose sind medizinisch nicht mehr gerechtfertigt und daher diskriminierend.“
Dr. med. Wolfgang Wagener, Koordinator der Leitlinie
Erfahrungsbericht: Jens Wicklein – Der Mensch zählt, nicht die Diagnose
Jens Wicklein, Zollbeamter mit Typ-1-Diabetes und langjähriges Mitglied der freiwilligen Feuerwehr, hat in seinem Vortrag bei der DDG-Pressekonferenz eindrucksvoll verdeutlicht, dass nicht die Diagnose im Vordergrund stehen sollte, sondern der Mensch dahinter. Entscheidend ist, mit welcher Verantwortung und Disziplin Betroffene die Herausforderungen des Alltags angehen. Diabetes ist kein Hinderungsfaktor – im Gegenteil:
„Diabetes ist kein Hinderungsfaktor, sondern ein Trittbrett zu mehr. Menschen mit Diabetes können mit Disziplin und Technik alles erreichen in ihrem Leben.“
Christina Seddig, DDG-Pressestelle
Ein persönlicher Einschnitt war für Wicklein die Ablehnung zur Bundeswehr. Bei der Musterung wurde strikt nach Leitlinie entschieden, ohne den individuellen Menschen und seine Fähigkeiten zu berücksichtigen. Wicklein betont, dass es zwar Menschen mit Diabetes gibt, die ihr Selbstmanagement nicht optimal meistern, aber gerade deshalb müsse immer individuell geschaut und bewertet werden. Pauschalisierungen seien nicht zielführend.
Probleme entstehen vor allem dann, wenn nicht offen kommuniziert wird oder das Gegenüber (z. B. in der Arbeitsmedizin) nicht ausreichend informiert ist.
„Menschen mit Diabetes sind oft die Experten für ihren eigenen Diabetes. Offenheit, Transparenz und vor allem Aufklärung sind entscheidend.“
Jens Wicklein
Die neue Leitlinie der DDG sieht Wicklein als große Chance: Sie sorgt für Klarheit und räumt veraltete Vorurteile aus. Entscheider an wichtigen Schnittstellen erhalten eine fundierte Grundlage und können so Missverständnisse vermeiden.
Wicklein regt an, die Mentalität des „Das geht nicht“ kritisch zu hinterfragen. Nach seiner Ansicht lohne es sich, einen zweiten Blick zu wagen und stattdessen eine lösungsorientierte Haltung einzunehmen. Menschen mit Diabetes sollten eine Chance bekommen, denn sie seien durchaus in der Lage, Herausforderungen zu meistern – andernfalls gehe der Gesellschaft wertvolles Potenzial verloren.
Diskriminierung
„Im Grunde ist es schon diskriminierend, dass Menschen mit Diabetes überhaupt so beurteilt werden, wenn man bedenkt, wie viele Menschen zu viel Alkohol trinken, Schlafmittel oder Psychopharmaka nehmen. Womöglich ist das deutlich verkehrsgefährdender.“
Teilnehmender der DDG-Pressekonferenz
Die DDG-Leitlinie und die Experten betonen: Pauschale Sonderregeln und Ausschlüsse für Menschen mit Diabetes sind medizinisch nicht mehr gerechtfertigt und daher diskriminierend. Moderne Diabetestechnik und Therapie ermöglichen heute eine sichere Teilnahme am Straßenverkehr – oft mit geringerem Risiko als bei anderen, weniger beachteten Risikofaktoren.
Häufige Fragen
Die blutige Blutzuckermessung bleibt der Goldstandard, da CGM-Systeme einen Zeitverzug von 15–30 Minuten haben. Auch in Zukunft werden Teststreifen benötigt – insbesondere zur Verifizierung von CGM-Werten und bei kritischen Situationen.
Der Anteil steigt kontinuierlich, genaue aktuelle Zahlen variieren je nach Region und Kostenträger. Viele Patienten profitieren bereits von CGM, aber ein relevanter Teil muss weiterhin konventionell messen.
Eine Tätigkeit mit besonderer Verantwortung im Straßenverkehr (z.B. Kraftfahrer) ist ein wichtiger Aspekt, reicht aber allein nicht aus. Entscheidend sind zusätzliche Faktoren wie Therapiezielerreichung und Dokumentation.
Für Langstrecken oder Berufsfahrten (Lkw, Bus, Taxi) empfiehlt die Leitlinie ein besonders strukturiertes Vorgehen: engmaschige Glukosekontrolle, Pausenplanung und Mitführen von Notfall-Kohlenhydraten.
Eine aktive Meldepflicht besteht nicht. Bei expliziter Nachfrage ist jedoch wahrheitsgemäß zu antworten. Eine pauschale Angabe ist rechtlich nicht vorgeschrieben.
Empfehlungen und Grenzwerte für Diabetiker im Straßenverkehr
| Empfehlung / Grenzwert | Wert / Maßnahme | Kommentar |
| Glukosewert vor Fahrtantritt | ≥ 90 mg/dl (5 mmol/l) | Standardempfehlung für alle mit Hypoglykämierisiko |
| Glukosewert vor Fahrtantritt (Schwangere) | ≥ 80 mg/dl (4,4 mmol/l) | Spezifisch für Schwangere mit Diabetes |
| Fahrtantritt bei Hypoglykämie (< 70 mg/dl) | Nicht antreten / Fahrt unterbrechen | Bei Unterzuckerung oder Verdacht: sofort Maßnahmen ergreifen, erst nach Normalisierung weiterfahren |
| CGM-Nutzung: Alarmgrenzen einstellen | Alarmgrenze individuell, rechtzeitig vor Hypo | Trendpfeile beachten, Alarmfunktion aktivieren |
| Mitführen von Kohlenhydraten | Immer griffbereit im Fahrzeug | Für Notfälle, z.B. Traubenzucker, schnell wirksame KH |
| Blutzuckermessgerät / CGM für längere Fahrten | Mitnehmen | Für Kontrolle und Sicherheit unterwegs |
| Fahruntüchtigkeit bei Sehstörungen, Entgleisung, starke Schwankungen | Fahrt vermeiden, ggf. ärztliches Fahrverbot | Insbesondere bei Therapieumstellung, Krankheit, Sehstörungen |
| Null Promille während der Fahrt | Kein Alkohol | Alkohol erhöht Hypoglykämierisiko und Unfallgefahr |
| Pausen bei längeren Fahrten | Regelmäßig, z.B. alle 3 Stunden | Kontrolle des Glukosewerts, ggf. Nachjustierung |
| Fremdhilfebedürftige Hypoglykämie (>1x/Jahr) | Fahrt vorübergehend ungeeignet | Bis stabile Stoffwechsellage und Wahrnehmung wiederhergestellt |
Weiterführende Literatur
- S2e-Leitlinie „Diabetes und St…
- Patientenleitlinie Diabetes un…
- Praxisempfehlungen: Diabetes u…
- S2e-Leitlinie Diabetes und Str…
- Souverän am Steuer – DDG Diabe…
- AWMF-Register: Patientenleitli…
Tipp: Für die Praxis empfiehlt sich, die Patientenleitlinie und die Praxisempfehlungen auszudrucken und den Patientinnen und Patienten auszuhändigen – insbesondere bei Fahreignungsfragen, Therapieumstellungen oder Unsicherheiten.
Fazit
Die neue DDG-Leitlinie gibt Diabetologen eine wissenschaftlich fundierte Grundlage für die Beratung, Begutachtung und Bewertung der Fahreignung. Sie fördert die Sicherheit im Straßenverkehr und die berufliche Teilhabe von Menschen mit Diabetes und setzt ein klares Zeichen gegen Diskriminierung durch veraltete Regelwerke. Die individuelle Beurteilung, Offenheit und die Chancen für Menschen mit Diabetes stehen im Vordergrund – nicht pauschale Einschränkungen.
Die DDG arbeitet aktuell an einer eigenen Patientenleitlinie zur Fahreignung bei Diabetes, die speziell auf die Bedürfnisse und Fragen der Betroffenen eingehen wird. Damit wird die wissenschaftliche Leitlinie um eine praxisnahe, allgemeinverständliche Version ergänzt – ein wichtiger Schritt für mehr Sicherheit und Teilhabe im Alltag.
Quelle:
Pressekonferenz der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG), 08.12.2025



