„Früher war alles besser.“ Wirklich? Bin ich nun schon so lange im Medizinbetrieb dabei, dass ich auch jetzt von früher sprechen kann und mit der heutigen Zeit vergleiche? Technokratisierung vs. Menschenmedizin? Jeder Vergleich hinkt als hätte er sich den Fuß gebrochen. Doch eines macht mir seit einiger Zeit großen Kummer. Bis vor wenigen Jahren war es schon noch häufiger so: kamen die Patienten aus verschiedensten Gründen ins Krankenhaus, erfolgte dort meist eine solide Versorgung und Entlassung.
„Blutige Entlassung“ ist ein harter Begriff, auch nicht immer gerechtfertigt, da es bisweilen Patienten gibt, die sehr darauf drängen nach Hause zu kommen. Der Heilungsprozess ist noch nicht ganz abgeschlossen und die Patienten stehen plötzlich vor der Praxistür – gern am Freitagmittag. Mal ganz im Sinne der Patienten: „Am Wochenende machen die doch eh nichts, Herr Doktor!“. Oder gar nicht in deren Sinne: „Und wer organisiert bei meiner Mutter jetzt am Wochenende die Wundversorgung?“
Wenn ich dann zunächst sage, können Sie mir mal den Entlassbrief zeigen, folgen nicht selten überraschte Blicke: „Haben Sie den denn noch nicht bekommen?“ – als würde der Postbote mit Lichtgeschwindigkeit von der Krankenstation direkt alles in die Praxis bringen – am besten ober- und chefärztlich vidiert. Immerhin sollte der Patient wieder erneut im Verlauf der Zeit im gleichen Krankenhaus landen, kommt spätestens der Brief vom vorherigen Aufenthalt. Denn dann fällt auch dort auf, dass der alte Brief endlich mal fertig werden muss.
Und natürlich stehen da weitere Empfehlungen, die im Vorabbrief nicht erwähnt wurden oder seitenlang Befunde, die keine Rolle spielen. Dafür aber nicht mit einem Wort erwähnt wird, welches Antibiotikum gegeben wurde. Selbstverständlich habe auch ich als junger Arzt in Weiterbildung im Krankenhaus am Ziel vorbei geschrieben. Und ebenso bei Hüft- oder Rückenschmerzen die ambulante Vorstellung bei Orthopäden vorgeschlagen, ohne zu ahnen, dass jedwede Empfehlung in Entlassbriefen Patienten und besonders deren Angehörigen ganz huschelig machen können. Bitter wird es jedoch, wenn bei multimorbiden Heimpatienten eine ambulante Gastroskopie und Koloskopie vorgeschlagen wird – fern jedweder ambulantorganisatorischen Realität.
Luftsprünge aus Freude mache ich aber schon allein, falls überhaupt die Laborwerte mit angehängt sind. Das ist nicht selbstverständlich. Wobei Labor kann leider auch schaden: Wenn wieder einmal sinnlose „Labororgien“ gefeiert wurden – im Sinne – wir nehmen mal alles ab, was es so gibt, wird schon was dabei sein. Mit der Folge, dass dann die Folsäure behandelt wird und natürlich ambulant unbedingt kontrolliert werden muss. Der HbA1c von 5,9% führt zur Empfehlung einer zeitnahen Vorstellung beim Diabetologen. Vom Vitamin D möchte ich gar nicht erst anfangen.
Noch besser: es gibt sehr auffällige Werte, die dann einfach nicht mehr stationär kontrolliert werden oder schlimmer noch am Entlasstag nochmal abgenommen werden und dann einfach mal schnell behandelt werden (Kaliumgabe). In der Empfehlung lesen sich dann so schöne Sätze wie: „Es erfolgte die Kaliumgabe, wir raten zur täglichen Kontrolle bis zum Erreichen des Referenzbereiches und eine Reevaluation der Fortführung der Therapie“.
Zu guter Letzt: die Entlassmedikation. Weiterhin werden zahlreiche Patienten egal mit welchem Risikoprofil bei NSAR-Gabe zugleich mit einem Protonenpumpenhemmer entlassen. Bei kardialen Patienten entkommt fast keiner ohne SGLT-2-Hemmer dem Krankenbett. Und Sacubitril/Valsartan wird anscheinend auch gern rasch gegeben, ohne wie eigentlich vorgesehen erst einmal Betablocker, ACE-Hemmer, Spironolacton versucht werden. Bei den Antithrombose-Spritzen sollen regelmäßige Blutbildkontrollen erfolgen und der juristische Text bei Metamizolgabe ist fast länger als das „Wort zum Sonntag“. Falls NSAR nicht gehen (Niere) und Metamizol nicht ausreicht wird gern noch ein Fentanylpflaster geklebt und dazu Morphin subkutan viermal am Tage fest zusätzlich. Und dass die Trinknahrung leider nicht mal eben so verordnet werden kann verlangt wieder alle Kunst der Kommunikation mit den Angehörigen. Dies alles führt dazu, dass ich, wenn ich nach dem Entlassbrief frage und zu hören bekommen „Oh, den haben wir zuhause vergessen.“ – gern man denke: Auch besser so.
Quelle: Der Allgemeinarzt
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