Das Bogenschießen hat sich aus der archaischen Jagd- und Kampfnutzung heraus in unserer Kultur zur Sport- und Freizeitgestaltung entwickelt. Das hat seinen Grund: Beim Bogenschießen kommen komplexe Bewegungsabläufe in Kombination mit körperlicher, aber nicht übermäßiger Anstrengung zum Einsatz. Körper, Geist und Seele werden gleichermaßen trainiert, denn präzise Bewegungsabläufe sind beim Bogenschießen zwingend notwendig. Dies kann auch therapeutisch genutzt werden. Schließlich kann Bogenschießen als eine eher sanfte, achtsame Sportart mit einem meditativen, kulturabhängig auch spirituellen Aspekt wahrgenommen werden. Weil der Sport oft in der Gruppe ausgeübt wird, ist er nicht nur team- und gemeinschaftsbildend, sondern schult gleichzeitig Disziplin und Verantwortungsbewusstsein, denn sicherheits- bedingt müssen strikte Spielregeln eingehalten werden.
Intuitives, ganzheitlich erlebtes Bogenschießen im hausärztlichen Kontext
Intuitives Bogenschießen ist die Urform des Schießens mit Bogen und Pfeil. Die Lenkung des Pfeils erfolgt dabei nach Zielerfassung mit beiden Augen ausschließlich dem Körpergefühl („der Intuition“) folgend wie bei einem Ball- oder Speerwurf. Der einfach gestaltete Bogen besitzt keine Visiereinrichtung, er verfügt als einzige Hilfe über eine verwendungsabhängige (Links- oder Rechtshänder) Pfeilauflage (shelf) oberhalb des Handgriffs. Er unterscheidet sich also grundsätzlich vom technisch aufgerüsteten Sportbogen des Visierschützen. Natürlich kann mit dem intuitiven Schießvorgehen auch sportlich ambitioniert („alle ins Gold“) geschossen werden, nur bestehen andere Wettkampfbedingungen als beim sportlichen Visierschießen.
Aber: Wird das intuitive, ganzheitlich erlebte Bogenschießen als therapeutische Maßnahme verstanden, steht nicht das optimale Trefferergebnis, sondern der Schießvorgang als solcher im Vordergrund. Er verbindet nämlich ein ungeteilt-ganzheitliches Schießerleben mit einer gleichzeitigen aktiven Entspannung.
Erste Überlegungen durch den Hausarzt
Auf dieser Grundlage hat der Erstautor dieser Arbeit (Th. M., Hausarzt und Psychotherapeut) ein Konzept entwickelt, das es jedem Hausarzt ermöglichen kann, das intuitive ganzheitlich erlebte Bogenschießen (INGABO) in mehreren Unterrichtseinheiten an betroffene Patienten oder andere Interessenten (Physiotherapeuten, Sporttherapeuten) weiterzugeben.1–4 Am Anfang jedoch steht für den Hausarzt selbst das Einüben der intuitiven Bogenschießtechnik und das „Hineinschnuppern“ in die Erlebniswelt des Bogensports. Dieser erste Schritt kann bei professionellen Bogentrainern, in einem Bogensportverein oder in Zusammenarbeit mit einem Bogensportgeschäft erfolgen. Die Zahl der notwendigen Unterrichtseinheiten hängt von der individuellen Geschicklichkeit und den Lernbedürfnissen des Bogensporteleven ab. Zur Vertiefung des Erlernten muss jedoch regelmäßig trainiert werden, zum Beispiel in einer Bogenhalle oder zu Hause. Wenn man selbst zu Hause schießen möchte, sind die Mittel und der Platzaufwand gering. Benötigt wird eine helle, windgeschützte Schießbahn, idealerweise mit einer Fangnetzvorrichtung am Ende und einem Bogenständer mit geeigneter Scheibe. Im Zweifelsfall reicht für private Zwecke eine sichere Garagenzufahrt. Dazu kommt die Investition in die geeigneten Sportgeräte (einfache Recurvebögen ohne Hilfsmittel mit einem Zuggewicht von 12–20 engl. Pfund, dazu mehrere Pfeile). Die Gesamtanschaffungskosten dürften deutlich unter dem Preis einer hochwertigen Tennisausrüstung liegen.
Und jetzt: Der Einstieg in das intuitive, ganzheitlich erlebte Bogenschießen!
Im Vordergrund steht das Erlernen eines immer gleichen Schießablaufs (Abb.), anfänglich mit einem Technikbogen („Nullbogen“). Der Nullbogen ist nichts anderes als ein elastisch-geschmeidiges Plastikrohr mit einem Plastikseil als angenommener Bogensehne. Das Zuggewicht ist gleich null; so lassen sich ohne Kraft- oder Zugaufwand die einzelnen Schritte beim intuitiven Bogenschießen perfekt ein- üben und automatisieren. Der in Einzelschritte zerlegte Schussablauf („Zehn Schritte zum Ziel“, Tab. Bewegungsabläufe) belegt als fließender Bewegungsablauf die Ganzheitlichkeit des intuitiven Bogenschießens.
Jede Schussabgabe beginnt mit der Einnahme eines stabilen, selbstsicheren Standes in Ausrichtung quer zum Ziel (Schritt 1). Nach einem tiefen Atemzug in Bauchatmung (Schritt 2) folgt das achtsame Einlegen des Pfeils in den Bogen (Schritt 3). Bereits jetzt schon entsteht eine während des ganzen Schießvorganges anhaltende Ruhetönung mit Konzentration auf das Hier und Jetzt. Nach dem selbstbewussten Aufrichten des Körpers (Schritt 4) und Orientierung durch Augenkontakt mit dem Ziel (Schritt 5) wird der Bogen angehoben (Schritt 6), bis der Bogenarm intuitiv die richtige Stellung im Verhältnis zum Ziel erreicht hat. Dann zieht die Schützin bzw. der Schütze die angespannte Sehne (Schritt 7) mit dem Pfeil kraftvoll zum „Ankerpunkt“ (Schritt 8), einem stabilen Ruhepunkt im Gesicht. Nach einem Moment des Innehaltens wird der Pfeil dann gelöst (Schritt 9), wenn der Körper signalisiert, „jetzt trifft der Pfeil“. Mit dem Einschlag auf der Scheibe kommt es zu einer Entspannung des gesamten Körpers bei gleichzeitiger Verinnerlichung (Schritt 10) der beim Schießvorgang wahrgenommenen Erfahrungen (Tab. Befindlichkeiten).
Wie kann INGABO in einer Hausarztpraxis reali- siert werden?
Nach Ausbildung des Erstautors (Th. M.) bei einem Bogenlehrer begann er vor etwas mehr als sechs Jahren, Gruppenkurse in eigener Regie zu organisieren. Rekrutiert wurden die Kursteilnehmer teilweise über die örtlichen Volkshochschulen (ohne spezielle Indikation) oder aus der Praxis heraus als Patienten. Indikationen waren chronische HWS-Syndrome, Rücken- schmerzen unterschiedlicher Genese, multiple Sklerose, Bewegungsstörungen nach Schlaganfall, aber auch Angststörungen, depressive Syndrome, selbstunsichere Persönlichkeitsstörung. Die Kurse fanden überwiegend in der Bogen- halle eines benachbarten Bogenfachgeschäftes statt (Scheibendistanz etwa 10 Meter, anfänger- gerechte einfache Recurvebögen standen leihweise zur Verfügung). Gleichzeitig erhielten die Teilnehmer eine selbst verfasste und verlegte Informationsschrift. In einer ersten Übungseinheit wurden die Teilnehmer schrittweise an den Ablauf des intuitiven Bogenschießens herangeführt und waren meistens am Ende dieser Einheit in der Lage, die Pfeile in der Nähe des Ziels zu platzieren. In der Regel trafen sich die Gruppen in der Folge zu drei weiteren betreuten, 90-minütigen Übungseinheiten in wöchentlichem Abstand. Nach der vierten und letzten Übungseinheit konnten die Teilnehmer die Bogenhalle über den Kurs hinaus auch zu weiterem, selbständigem Training benutzen. Zur Evaluierung des Verfahrens wurden die von 2017 bis 2021 durchgeführten siebzehn Kur- se mit insgesamt 132 Teilnehmenden wissenschaftlich analysiert. Es zeigte sich eindrücklich, dass intuitives Bogenschießen neben der aktiven Entspannung ein individuelles ganzheitliches Erleben ermöglicht.
Interessanter Nebeneffekt
Während erfahrungsgemäß in Kursen für autogenes Training oder Yoga vor allem Frauen anzutreffen sind,6, 8 zeigte sich als Nebeneffekt beim INGABO, dass etwa die Hälfte aller Kursteilnehmer Männer waren. Und sie waren mindestens so engagiert und interessiert wie ihre Bogenkameradinnen. Dies sollte vor allem unter dem Aspekt einer möglichen psychosomatischen Hilfestellung für Männer in der haus- ärztlichen Praxis Beachtung verdienen
Gibt es auch Kontraindikationen?
Wie bei jeder medizinischen Behandlung gibt es auch für das intuitive Bogenschießen Kontraindikationen; immerhin ist der „harmlose“ Bogen eine Waffe. Menschen mit akuten Alkohol- oder Drogenproblemen sowie Patienten mit schwersten Verhaltensauffälligkeiten (Selbstkontrollstörungen) sollten von einer Teilnahme am Bogenschießen ausgeschlossen werden.
Fazit
Wird der strukturierte Bewegungsablauf des in- tuitiven Bogenschießens beginnend mit dem sicheren, aufrechten Stand bis zum Einschlagen des Pfeils im Ziel regelmäßig geübt, entsteht bei immer gleichem Bewegungsmuster allmählich eine Automatisierung. Sie erlaubt es einerseits, den körperlich-therapeutischen Aspekt bei un- terschiedlichen Krankheitsbildern in verschie- denen Fachgebieten zu nutzen. Andererseits ermöglicht sie, die geistig-seelischen Aspekte und die Metaphorik des intuitiven Umganges mit Pfeil und Bogen wahrzunehmen. So wird aus dem körperlich orientierten Bewegungs- ablauf des intuitiven Bogenschießens mit sei- nen positiven körperlichen Auswirkungen ein ganzheitliches, biopsychosoziales Erleben mit aktiver Entspannung und der finalen Aussage: „INGABO – ich habe den Bogen raus!“
Autoren
- Dr. med. Thomas Meyer
Facharzt für Allgemeinmedizin Sportmedizin, Psychotherapie - Dr. med. Elisabeth Meyer M.Sc. (Psycho- logie)
Assistenzärztin Innere Medizin - Dr. med. Fritz Meyer
Facharzt für Allgemeinmedizin Sportmedizin
Facharzt für Hals-Nasen- Ohrenheilkunde
E-Mail: dr.fritz.meyer@gmx.de



