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DEGAM-Kongress: Gesellschaft und Gesundheitssystem im Wandel

DEGAM-Kongress: Gesellschaft und Gesundheitssystem im Wandel

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Erschienen in: Der Allgemeinarzt

Unter der Leitung von Prof. Nils Schneider und PD Dr. ­Kambiz Afshar aus dem Institut für Allgemeinmedizin und Palliativmedizin der Medizinischen Hochschule Hannover erwartet die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin rund 900 Teilnehmer vom 1.-3. ­Oktober in Hannover. Der Allgemeinarzt sprach vorab mit den Kongresspräsidenten.

Herr Dr. Afshar, unter welchem Thema steht der diesjährige DEGAM-Kongress?
Dr. Afshar: Das Motto des 59. DEGAM-Kongresses in Hannover lautet „Gesellschaft und Gesundheitssystem im Wandel – Perspektiven der Allgemeinmedizin“. Ich habe mich bei der Sichtung der Kongressbeiträge darüber gefreut, dass viele sich mit der Situation von Menschen in besonderen Lebenssituationen befassen. Vulnerable Gruppen werden sichtbar, viele soziale Aspekte werden angesprochen. Es geht zum Beispiel um Menschen ohne eigene Wohnung und Menschen aus der LGBTQ-Community.

Welche Barrieren gibt es für vulnerable Gruppen?
Dr. Afshar: Es geht um die Stigmatisierung dieser Gruppen und um Barrieren einer flächendeckenden Versorgung. Als erste Ansprechpartner spielen Hausärztinnen und Hausärzte dabei eine sehr wichtige Rolle. In Notfallsituation scheuen sich diese Menschen nicht selten, einen Arzt aufzusuchen. Generell suchen sie bei gesundheitlichen Problemen zu spät nach ärztlicher Hilfe.

Geht es auch um Menschen in prekären Lebens- und Einkommensverhältnissen?
Dr. Afshar: Wir haben verschiedene Beiträge im Programm, die sich mit der allgemeinärztlichen Versorgung versicherungs- und wohnungsloser Menschen befassen. Das Interesse an diesen Fragen hat im Vergleich mit den vergangenen Jahren deutlich zugenommen.
Welche Schwerpunkte hat das Kongressprogramm?
Prof. Schneider: Der demografische Wandel ist ein großes Problem. Die Versorgung älterer, multimorbider Patienten ist daher ein Kongressschwerpunkt. Zweites ist die palliative Versorgung am Lebensende ins gesellschaftliche Blickfeld und damit auch in den Fokus der Hausärzte gerückt. Dritter Hauptpunkt in unserer Gesellschaft ist der Mangel an Fachkräften. Deshalb ist die Ausbildung und Weiterbildung im Fach Allgemeinmedizin so elementar wichtig. Viele Kongressbeiträge befassen sich mit der Verbesserung der Lehre sowie der allgemeinärztlichen Weiterbildung. Der vierte Themenschwerpunkt ist die Gesundheitspolitik. Die Trennung der Sektoren zwischen Haus- und Fachärzten, das Primärarztmodell sowie die Finanzierung der Krankenversicherung sind Beispiele für politisch heiß diskutierte Themen, was sich auch im Kongressprogramm widerspiegelt.

Welche Aspekte der Palliativversorgung haben auf dem Kongress Priorität?
Prof. Schneider: Die höchst relevante Rolle der Hausärzte in der Palliativversorgung wird auf dem DEGAM-Kongress herausgestellt. Die empirischen Daten der Kongressbeiträge werden die prominente Rolle der Hausärzte auf diesem Feld verdeutlichen.

… und in der Primärarztversorgung?
Prof. Schneider: Ein Schwerpunkt wird auf der Interprofessionalität liegen. Zur Primärversorgung gehören nicht nur die Allgemeinärzte, sondern die Teamstruktur mit den Medizinischen Fachangestellten, den Physician Assistants, der Pflege sowie der Sozialarbeit und weiteren Berufsgruppen. Das Team-Prinzip spielt in der primärärztlichen Versorgung eine noch größere Rolle als in einer klassischen Hausarzt-Praxis. Ein Umsetzungsbeispiel ist das HÄPPI-Konzept aus Baden-Württemberg, aber es gibt auch noch andere gute Beispiele.

Gibt es noch andere Programmthemen?
Prof. Schneider: Wir haben beispielsweise Sessions zu psychischen Erkrankungen, zur seelischen Gesundheit, zu Schmerzen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und zur Diabetes. Aber auch zu den Themen Klima und Gesundheit sowie Digitalisierung werden interessante Vorträge zu hören sein.
Dr. Afshar: Viele Beiträge befassen sich mit Long- und Post-Covid-Themen.
Prof. Schneider: Dieser Punkt hat mich wirklich überrascht. Natürlich hatten wir mit dem Thema gerechnet, aber die Vielzahl an wissenschaftlichen Arbeiten über Post-Covid hätte ich nicht erwartet. Diese Patientengruppe leidet extrem schwer, fällt aber oftmals durch das Versorgungssystem. Gerade deshalb aber ist es so wichtig, dass sie durch die Hausärzte aufgefangen ­
werden.

Was sind die zentralen Post-Covid-Probleme?
Prof. Schneider: Wir haben keine monokausale Erklärung für die Genese von Post-Covid. Ebenso fehlt eine kausale Therapie. Symptome wie Fatigue sind extrem schwierig zu behandeln, da gibt es nicht das eine Rezept. Und wir haben keine klaren Behandlungspfade zwischen Hausärzten, Fachspezialisten und Spezialambulanzen.

Warum fallen Post-Covid-Patienten oft durch das Raster?
Prof. Schneider:
Unser Gesundheitssystem versagt oft, wenn es um multifaktorielle Probleme geht, für die es keine vermeintlich einfache ‚technische‘ Lösung gibt. Die Patienten wechseln dann von einem Arzt zum nächsten und fühlen sich nirgends gut aufgehoben; die Ganzheitlichkeit der Versorgung fehlt. Wenn überhaupt, dann gibt es sie am ehesten auf der hausärztlichen Ebene. Forschungsergebnisse zeigen, dass es leider auch eine Stigmatisierung dieser Patientengruppe gibt. Das kann daran liegen, dass der Mangel an Behandlungsoptionen zu Abwehrreaktionen der Gesundheitsberufe führt.
Dr. Afshar: Die Long- und Post-Covid-Beiträge reichen von der Untersuchung von Grundlagenaspekten bis zu konkreten Arzneimittelstudien und zur medikamentösen Therapie. Im Grunde ist vieles an Covid unverstanden und die Beiträge gehen thematisch enorm in die Breite.

Über welche Gastreferenten freuen Sie sich besonders im Programm?
Prof. Schneider:
Es gibt vier Keynote-Speaker, die wir eingeladen haben. Der Zeit-Wissenschaftsjournalist Ulrich Schnabel spricht am Mittwoch über den Gemeinsinn als Fundament in Gesellschaft und Gesundheitssystem. Angesichts gewisser Spaltungstendenzen in unserer Gesellschaft ist das ja ein großes Thema. Auch im Gesundheitssystem arbeiten viele Gruppen mehr gegeneinander als miteinander. Es ist also ein topaktuelles Thema. Zum Thema Familienmedizin wird es die zweite Keynote von Prof. Stefan Wilm und Vera Kalitzkus aus Düsseldorf am Donnerstagvormittag geben. Am Donnerstagnachmittag folgt die dritte Keynote im Rahmen der Hufeland-Lecture. Der ehemalige Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), Prof. Peter Strohschneider, wird über die Krise der Evidenz sprechen. Was sind die Grenzen und die Chancen wissenschaftlicher Evidenz? Am Freitag steht eine Keynote-Lecture von Franz Knieps, ehemaliger Regierungsberater unter anderem der Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt sowie Krankenkassen-Funktionär, auf dem ­Programm. Sein Thema lautet: „Wie viel Staat braucht bzw. verträgt das Gesundheitssystem?“ Knieps kennt die Gesundheitspolitik in Ost und West wie seine Westentasche und wird die Rolle des Staates im Gesundheitssystem aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten. Das ist ein sehr aktuelles Thema, weil es um das Spannungsfeld von Marktwirtschaft und staatlicher Lenkung geht. Am Tag der Deutschen Einheit, unserem letzten Kongresstag, wird dieses Thema sicher gut passen.

Gibt es eine Fortsetzung des DEGAM-Erinnerungsprojektes „Das leere Sprechzimmer“?
Dr. Afshar: Ja, das Sprechzimmer wird als Ort der Besinnung und Ruhe aufgebaut sein. Außerdem ist ein eigenes Symposium zum Thema „Remigration“ geplant – allerdings ganz anders, als es die AfD meint. Auf dem DEGAM-Kongress wird es um die Frage gehen, ob und wie jüdische Ärzte nach dem Ende des Nationalsozialismus wieder nach Deutschland zurückgekehrt sind. Ein wichtiges Thema!

Das Interview führte Franz-Günter Runkel

Abb.: medJUNGE

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