Die medizinische Versorgung von Menschen mit schweren Beeinträchtigungen konfrontiert Fachpersonen regelmäßig mit komplexen ethischen Fragen. Im Zentrum steht die Entscheidung, welche Behandlungen gerechtfertigt und sinnvoll sind – insbesondere dann, wenn die Urteilsfähigkeit der Betroffenen eingeschränkt ist.
Ein Fallbeispiel als Ausgangspunkt
Ein Patient mit einem Oculo-cerebro-renalem Syndrom (LOWE-Syndrom) wurde über zwanzig Jahre hinweg durch mich als Hausarzt betreut. Neben Blindheit, kognitiven Einschränkungen und orthopädischen Problemen entwickelte er eine zunehmende Niereninsuffizienz. Es stellte sich die Frage einer Dialysebehandlung – einer Therapie, die regelmäßige Eingriffe und hohe körperliche Belastungen mit sich bringt. Aufgrund seiner Ablehnung von Berührungen und medizinischen Behandlungen, verbunden mit begrenzter Aussicht auf einen Nutzen, entschieden sich Betreuende und Angehörige nach intensiven Gesprächen gegen die Dialyse und für eine palliative Begleitung.
Ausgehend von dem Fallbeispiel des Patienten mit Oculo-cerebro-renalem Syndrom (LOWE-Syndrom) werden grundlegende ethische Konzepte diskutiert: das Verständnis von Menschenwürde, die Prinzipien der klinischen Ethik (Beauchamp/Childress) sowie philosophische Ansätze (Kant, Margalit, Nussbaum). Ziel ist es, Kriterien für verantwortungsvolle Entscheidungen in schwierigen Behandlungssituationen aufzuzeigen, die die Würde und Lebensqualität der Betroffenen respektieren. Es geht auch um eine Darstellung der Möglichkeiten der palliativen Medizin, wenn eine Heilung nicht mehr möglich ist.
Menschenwürde als ethisches Fundament – philosophischer Exkurs1
Immanuel Kant gilt als der Begründer des Würdebegriffs, der Philosoph Avishai Margalit hilft, den Begriff besser im Alltag anwenden zu können. Martha Nussbaum definiert Grundfähigkeiten des Menschen, die zur Entfaltung kommen sollten für ein erfüllendes Leben.
Immanuel Kant definierte Würde als den „unvergleichlichen Wert“ des Menschen, der sich aus seiner Fähigkeit zu moralischem und vernunftgeleitetem Handeln ergibt (Kant, Kritik der praktischen Vernunft). Der Mensch darf dabei nie Mittel zum Zweck werden, bloß als Mittel behandle ich den anderen, wie Kant meint, wenn ich ihn in einer Weise gebrauche, der er nicht zustimmen kann. Die Würde der anderen Person zu achten, bedeutet, sie so zu behandeln, dass sie die Möglichkeit hat, dem, was man mit ihr tut, zuzustimmen oder abzulehnen.
Der israelische Philosoph Avishai Margalit nähert sich dem Begriff der Würde von der Negativseite: Würde werde verletzt, wenn Menschen erniedrigt oder verachtet werden (Margalit: Poltitik der Würde: Über Achtung und Verachtung. Berlin: Suhrkamp 2012). Respektvolle Anerkennung sei daher die entscheidende Bedingung für ein würdiges Leben.
Martha Nussbaum entwickelt einen praxisorientierten Ansatz: Ein würdiges Leben hängt davon ab, ob Menschen grundlegende Fähigkeiten entwickeln können – von Gesundheit über soziale Bindungen bis hin zur Möglichkeit, das eigene Leben zu gestalten (Nussbaum, Gerechtigkeit oder Das gute Leben. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998). Gerade im Bereich von Behinderungen zeigt sich, dass staatliche und gesellschaftliche Rahmenbedingungen diese Fähigkeiten entweder ermöglichen oder verhindern.
Prinzipien der klinischen Ethik
Die klinische Ethik hat sich in den 1970er Jahren in den Vereinigten Staaten entwickelt und rasch auch in Europa Anerkennung gefunden. Mit diesem Arbeitsinstrument ist es möglich, schwierige medizinische Situationen zu analysieren und zu guten Entscheidungen zu kommen. Beauchamp und Childress2 formulierten 1979 vier Prinzipien, die heute als internationaler Standard der klinischen Ethik gelten:
- Autonomie: Achtung der Selbstbestimmung des Patienten.
- Nicht-Schaden (Non-Malefizienz): Vermeidung vermeidbarer Schäden. Eine medizinische Behandlung soll keinen Schaden verursachen.
- Nutzen (Benefizienz): Förderung des Wohls des Patienten. Eine medizinische Behandlung soll einen Nutzen haben.
- Gerechtigkeit: faire und bedarfsgerechte Verteilung medizinischer Ressourcen.
In einer Ethikberatung können die verschiedenen ethischen Prinzipien gegeneinander abgewogen werden, um zu guten Entscheidungen zu kommen. Eine Möglichkeit ist der von Ruth Baumann-Hölzle vorgeschlagene 7-Schritte-Dialog3.
Lebensqualität: Außen- und Innenperspektive
Ein zentrales Problem in der Behandlung von Menschen mit Behinderungen ist die Frage nach der Lebensqualität. Von außen wird diese häufig unterschätzt: „Das ist doch kein würdiges Leben!“ Studien und Erfahrungsberichte zeigen jedoch, dass die subjektive Lebensperspektive oft deutlich positiver ist.4
An welchen Kriterien kann sich die Lebensqualität orientieren? Folgende Kriterien werden in der Literatur vorgeschlagen: Beweglichkeit, Alltagskompetenz, Schmerz bzw. Schmerzlosigkeit, die Fähigkeit zur sozialen Interaktion und Kommunikation und geistige Leistungsfähigkeit. Anhand dieser Kriterien wird versucht, eine objektive Einschätzung zu erreichen. Es geht dabei nicht nur um die jetzige Lebensqualität, sondern auch um diejenige im Falle einer Behandlung oder eines Behandlungsverzichts. Wichtig ist auch darauf hinzuweisen, dass es sich bei der Bewertung der Lebensqualität um eine persönliche Bewertung handelt, die durchaus anders als von außen betrachtet ausfallen kann.5
Im geschilderten Fall nahm der Patient trotz schwerer Behinderung aktiv am Leben teil, er freute sich an Musik, sozialen Kontakten und familiären Besuchen. Lebensqualität muss daher primär aus der Innenperspektive beurteilt werden – und darf nicht allein auf körperliche Funktionsfähigkeit reduziert werden.
Entscheidungsfindung bei eingeschränkter Urteilsfähigkeit
In der Behandlung von Menschen mit Beeinträchtigungen sind wir häufig auch mit Fragen der Urteilsfähigkeit konfrontiert. Darum möchten wir an dieser Stelle auch auf diese komplexe Problematik eingehen, die diese Menschen zentral betrifft. In Institutionen der Langzeitpflege werden Menschen mit schweren Behinderungen und kognitiven Beeinträchtigungen häufig das Leben lang betreut. Die Betreuer und das Fachpersonal sind dann das wichtigste Bezugssystem für die Menschen. Deshalb tragen diese Institutionen auch eine gesetzliche Verantwortung gegenüber den Bewohnern im Sinne der Fürsorge. Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften geht in ihrem Dokument „Urteilsfähigkeit in der medizinischen Praxis“ von 2019 ausführlich auf die Beurteilung der Urteilsfähigkeit ein.
Als erstes wird ein psychopathologischer Status erhoben:
- Wie sind die kognitiven Funktionen? (z.B. Aufmerksamkeit, Orientierung, Gedächtnis)
- Wie sind die emotionalen Faktoren (z.B. Angst, Depression, Suizidalität),
- Bestehen psychotische oder wahnhafte Symptome?
Danach geht es um die Einschätzung der mentalen Fähigkeiten:
- Die Fähigkeit, Informationen in Bezug auf die zu fällende Entscheidung zu verstehen (Erkenntnisfähigkeit).
- Die Fähigkeit, die Situation und die Konsequenzen, die sich aus alternativen Möglichkeiten ergeben, richtig abzuwägen (Wertungsfähigkeit).
- Die Fähigkeit, die erhaltene Information im Kontext eines kohärenten Wertsystems rational zu gewichten (Willensbildung).
- Die Fähigkeit, die eigene Wahl zu äußern (Willensumsetzungsfähigkeit).
Bei vielen Menschen in Institutionen der Langzeitpflege besteht im juristischen Sinne keine volle Urteilsfähigkeit, da häufig kognitive Beeinträchtigungen bestehen mit Einschränkungen der mentalen Fähigkeiten. Je komplexer eine Entscheidung ist (z.B. Dialysebehandlung, onkologische Therapien), desto mehr Verständnisfähigkeit vom Betroffenen wird gebraucht, um kompetente Entscheidungen zu fällen. Trotz dieser objektiven Defizite sollen Wünsche und Äußerungen dieser Menschen wahrgenommen und bei den Entscheidungen einbezogen werden.
Es wird noch einmal klar, wie bedeutend das Bezugssystem der Betreuer und des Fachpersonals in solchen Institutionen ist. Sie haben täglich mit diesen Menschen zu tun und müssen bei schwierigen Entscheidungen unbedingt einbezogen werden. Bei Menschen, mit denen keine verbale Kommunikation möglich ist, sind die ethischen Herausforderungen besonders hoch. Hier gilt es im Sinne des wohlverstandenen Interesses („Best interest“) zu handeln: Es soll so gehandelt werden, dass das Wohlbefinden, die Würde, Gesundheit und Lebensqualität des Betroffenen am besten geschützt werden. Bei eingeschränkter Urteilsfähigkeit besteht ein Spannungsfeld zwischen dem, was an Selbstbestimmung tatsächlich möglich ist, und der Verantwortung, welche Betreuungspersonen, Akteure des Gesundheitswesens oder rechtliche Beistände tragen müssen. Hilfreich ist hier das Konzept der assistierten Autonomie6.
Der erwachsene, entscheidungsfähige Mensch ist in der Ausübung seiner Autonomie stets auf die Anerkennung und Unterstützung anderer angewiesen7. Für Menschen mit Behinderung – insbesondere für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung – ist dies in besonderer Weise bedeutsam. Während sich bei den meisten Menschen die Frage nach Urteilsfähigkeit erst in bestimmten Lebenssituationen stellt, ist sie bei Personen mit schwerer oder mehrfacher Behinderung von Anfang an präsent.
Hier geht es nicht allein darum, ob jemand urteilsfähig ist oder nicht. Vielmehr stellt sich die Frage, wie man die Selbstbestimmung einer Person überhaupt ermöglicht und wie es gelingen kann, möglichst nahe an ihre Wünsche, Bedürfnisse und ihr eigenes Urteil heranzukommen – gerade bei sensiblen medizinischen Entscheidungen am Lebensende. Autonomie muss deshalb assistiert, begleitet und unterstützt werden. Eine systematische Konzeptualisierung von Assistenz im Kontext Behinderung hat Georg Theunissen entwickelt, die von Lars Mohr8 prägnant zusammengefasst wurde. Theunissen unterscheidet fünf Formen der Assistenz:
- Lebenspraktische Assistenz – Unterstützung bei der Alltagsbewältigung
- Dialogische Assistenz – Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung und Kommunikation
- Konsultative Assistenz – Beratung in Bezug auf psychosoziale Fragen, Lebenspläne und Ziele
- Advokatorische Assistenz – anwaltschaftliches Vertreten, Übersetzen, Fürsprecher sein,
- Facilitatorische Assistenz – wegbereitende Unterstützung und Ermöglichung
Gerade in der Auseinandersetzung mit medizinischen Entscheidungen von Menschen mit kog-nitiven Beeinträchtigungen braucht es oft eine Kombination aus dialogischer, konsultativer, advokatorische und facilitatorischer Assistenz. Bei unserem Patienten besteht keine volle Urteilsfähigkeit im juristischen Sinne. Im Kontakt mit dem medizinischen System zeigte er immer wieder eine Abwehr gegenüber Blutentnahmen und medizinischen Eingriffen. Eine solche Willensäußerung muss respektiert werden. Es gilt also: Entscheidungen sollen sich bei fehlender Willensäußerung am wohlverstandenen Interesse orientieren und Angehörige, Betreuungspersonal oder gesetzliche Vertretungen einbeziehen. Die assistierte Autonomie kann als Instrument des Empowerments betrachtet werden, damit der Patientenwille besser umgesetzt werden kann.
Fazit: Kriterien für gute Entscheidungen
Gute medizinische Entscheidungen in schwierigen Situationen beruhen auf einer Vielschichtigkeit von medizinischen, ethischen und rechtlichen Überlegungen. Leitend sind:
- Respekt der Menschenwürde,
- ethische Prinzipien (Autonomie, Nicht-Schaden, Nutzen, Gerechtigkeit),
- Einbezug der subjektiven Perspektive der Betroffenen,
- strukturierte Entscheidungsprozesse in Ethikforen und Teams
- sowie die Priorisierung von Lebensqualität gegenüber reiner Lebensverlängerung.
Das Fallbeispiel zeigt, dass ein Verzicht auf invasive Therapie – hier die Dialyse – im Sinne der Würde und Lebensqualität die richtige Entscheidung sein kann. Wenn eine Entscheidung gegen eine kurative Medizin fällt, öffnet sich das große Feld der palliativen Behandlung.
Ausblick
Die ethischen Grundlagen, die Prinzipien der klinischen Ethik und die besondere Bedeutung der Menschenwürde bilden das Fundament für verantwortungsvolle Entscheidungen in der Behandlung von Menschen mit schweren Beeinträchtigungen. Gerade in komplexen Situationen ist ein sensibler, strukturierter Umgang mit Lebensqualität und Selbstbestimmung unerlässlich. Im zweiten Teil wird gezeigt, wie diese ethischen Überlegungen in der palliativen Praxis konkret umgesetzt werden – und wie professionelle Begleitung, Kommunikation und gemeinsames Handeln dazu beitragen, Würde und Lebensqualität bis zuletzt zu sichern.
Dr. med.
Giovanni Fantacci
Angela Grossmann
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