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Geschlechtsspezifische Unterschiede in der Medizin – Teil 1: Frauen sind anders krank. Männer auch

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Geschlechtsspezifische Unterschiede in der Medizin – Teil 1: Frauen sind anders krank. Männer auch

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Erschienen in: Der Allgemeinarzt

Geschlechtsspezifische Unterschiede in der Medizin werden leider immer noch unterschätzt, wenngleich es mittlerweile zahlreiche Krankheiten gibt, bei denen zum Teil deutliche Unterschiede zwischen Mann und Frau identifiziert wurden. Die Ursachen können, was naheliegend erscheint, in den Genen liegen. Dieser Beitrag ist Teil 1 einer dreiteiligen Serie, in der wir uns mit der Gendermedizin ­beschäftigen und bei unserem Streifzug auf einige interessante Facetten stoßen.

Neben den biologischen Unterschieden gibt es aber noch andere Ursachen, die im sog. sozialen Geschlecht begründet sind. Mit der Gendermedizin als noch junge Fachdisziplin kommen die Forscher mehr und mehr den Ursachen auf die Spur – die Grundlage für die Entwicklung einer geschlechtergerechten individuellen Versorgung.

Beispiel: Tragischer Verlauf einer Fehldiagnose

Eine 65-jährige Frau verspürte an einem Wochenende starke Schmerzen im Oberkörper. Dem herbeigerufenen Bereitschaftsarzt gegenüber äußerte sie die Vermutung, dass die Schmerzen ursächlich von der Brustwirbelsäule kommen könnten. Sie erzählte ihm von einem Bandscheibenvorfall, den sie vor Jahren erlitten hatte, der zu einer Wirbelversteifung führte. Der Arzt verschrieb ihr daraufhin ein Schmerzmittel. Immer noch der Überzeugung, dass ihre Wirbelsäule die Ursache für ihre Schmerzen sei, stellte sie sich gleich am Montag beim Orthopäden vor. Dieser verschrieb ihr ebenfalls nur eine ambulante Schmerzbehandlung. Am Donnerstag verschlechterte sich der Zustand weiter, weshalb sie ins örtliche Krankenhaus eingewiesen wurde. Nach einer verabreichten Infusion gegen die Schmerzen wurde die Frau nach einigen Stunden wieder entlassen. Am darauffolgenden Sonntag kam es zu einer weiteren massiven Verschlechterung. Der alarmierte Notarzt stellte schnell die Diagnose: Herzinfarkt! Im Krankenhaus wurde ein Hinterwandinfarkt festgestellt. Die Patientin wurde umgehend ins Herzzentrum verlegt. Die angesetzte Notoperation fand jedoch nicht mehr statt: Das Herz war bereits zu geschädigt, die Patientin verstarb.
Der geschilderte Fall ist glücklicherweise fiktiv, könnte sich aber genau so zugetragen haben. Denn leider unterschätzen immer noch viele Ärzte (und auch viele Frauen) die Gefahr eines Infarkts. Sie erkennen oft die Anzeichen nicht, da sich einige Symptome des Herzinfarkts bei Frauen deutlich von denen bei Männern unterscheiden.
Das Verständnis für geschlechterspezifische Unterschiede bei kardiovaskulären Erkrankungen hat sich zwar schon verbessert, findet aber noch zu wenig Eingang in die aktuellen Leitlinien. Die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie hat daher in einem Positionspapier geschlechterspezifische Aspekte in der Kardiologie gezielt thematisiert.

Weitere Informationen: https://doi.org/10.1007/s12181–024–00694–9

Das Fallbeispiel steht stellvertretend für ein unterschätztes Problem, das nicht nur bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen, sondern mittlerweile bei zahlreichen Krankheiten zutage kommt. Professor Dr. Marek Glezerman, der Pionier der Gendermedizin, hat das bereits in seinem 2018 erschienenen Buch mit dem treffenden Titel „Frauen sind anders krank. Männer auch“ eindrucksvoll beschrieben.
So unglaublich es klingt, aber die Medizin, insbesondere die Forschung, behandelte Frauen und Männer noch bis in die 1990er Jahre gleich. Es wurde erst spät erkannt, dass der Faktor Geschlecht, ebenso wie etwa Alter, Herkunft oder Lebensumstände, eine wesentliche Rolle nicht nur bei der Behandlung, sondern auch bei Diagnose und Prävention spielt. Die meisten Medikamente und Krankheiten wurden in der Vergangenheit an jungen, gesunden Männern erforscht, obwohl sich Wirkung, Nebenwirkungen oder auch Dosierungsanforderungen bestimmter Arzneimittel bei Frauen teilweise deutlich unterscheiden (Gender Data Gap). Dennoch kommt das Thema nur schleppend in der Medizin an.
Dass es Zeit zum Umdenken ist, bestätigen auch die Ergebnisse einer repräsentativen Online-Befragung zu Gendermedizin unter Allgemeinmedizinern/Internisten aus dem Vorjahr: So stimmten 96 % der befragten Hausärzte zwar der Aussage zu, dass das Geschlecht bei der Behandlung eine Rolle spielt. Jedoch gaben nur 6 % an, dass sie bei der Verschreibung und Vergabe von Medikamenten immer oder fast immer geschlechtsabhängig entscheiden. Immerhin 73 % berücksichtigen manchmal, aber nur bei bestimmten Krankheitsbildern oder Medikamenten, das Geschlecht (20 % berücksichtigen das Geschlecht nie). 55 % der Hausärzte sind nicht sicher, ob sie bereits eine fehlerhafte Diagnose aufgrund geschlechtsspezifischer Unterschiede gestellt haben. Zum Thema Studium bzw. Ausbildung gaben 37 % an, dass ihnen keinerlei geschlechtsspezifisches medizinisches Wissen vermittelt wurde. Diese Aussage war allerdings altersabhängig.6 Dank der Gendermedizin respektive der geschlechtersensiblen Medizin (unter Berücksichtigung von weiteren Diversitätsfaktoren, GSM+) hat sich das in den vergangenen Jahren verändert. Inzwischen ist es auch gesetzlich geregelt, dass alle neuen Medikamente für beide Geschlechter ausgetestet werden müssen. Und so zeigen immer mehr klinische Studien, dass bestimmte Medikamente bei Frauen anders wirken. Und dies ist nicht – wie lange angenommen – ausschließlich durch die Unterschiede in Körpergröße und Gewicht begründet, sondern hat seine Ursachen unter anderem auch im unterschiedlichen Stoffwechsel und Hormonhaushalt.4 Geschlechtersensible Unterschiede finden sich neben Herz-Kreislauferkrankungen bei vielen weiteren Krankheiten, wie z.B. bei vielen chronischen Erkrankungen, Schlaganfall, Typ-2-Diabetes, Nierenerkrankungen, Lebererkrankungen oder auch bei Depressionen und Alzheimer. Und auch das Immunsystem ist alles andere als „neutral“.

Ausblick

In Teil 2 klären wir, warum Ungleichbehandlung in der Medizin erwünscht ist. Wir beschäftigen uns mit den geschlechtsspezifischen Unterschieden des Immunsystems, mit dem Schmerzempfinden von Frauen und Männern und gehen möglichen Ursachen nach.

Autor: Brigitte Funk

Quelle: Der Allgemeinarzt

Bildquelle:© Ljupco-Smokovski – stock.adobe.com

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