Allgemeinmedizin » Sonstiges

»

Pädiatrische Kasuistiken im Corpus Galenicum – Teil 2: Allgemeinmedizin am Kinderbett

Pädiatrische Kasuistiken im Corpus Galenicum – Teil 2: Allgemeinmedizin am Kinderbett

Panorama

Allgemeinmedizin

Sonstiges

mgo medizin

mgo medizin

Autor

5 MIN

Erschienen in: Der Allgemeinarzt

Im Werk Galens finden sich zahlreiche unsystematische Fallberichte, von denen etwa zehn Prozent Kinderkrankheiten wie Fieber oder Epilepsie ­betreffen. Galen behandelte meist selbst und setzte vor allem konservative Therapien ein, da ­spezifische Behandlungsmöglichkeiten für Kinder selten waren. Eine medizinische Analyse fehlte –bisher.

Anhand ausgewählter Fallberichte Galens wird gezeigt, wie er Prognosen stellt, Therapien anpasst und dabei auch Fehleinschätzungen oder Rückschläge dokumentiert.

Fieber und Schweiß – Schlingernde Prognosen

Sextus, der Sohn des Antoninus (Sextus Quintilius Condianus, Konsul 180 n. Chr.), erkrankte so schwer, dass es den Anschein hatte, als ob er den siebten Tag ohne eine plötzliche Wende nicht überleben werde. Was mit ihm passieren könnte, erkannte Galen am vierten Tag und teilte diese Prognose auch dem Kammerdiener Peitholaos mit, der ihn um Aufklärung gebeten hatte. Galen sagte voraus, dass die Krankheit nicht über den siebten Tag hinaus fortschreiten könne und die Wende auf jeden Fall am sechsten oder siebten Tag eintreten werde. Wenn sie am sechsten Tag eintrete, sei mit einem Rezidiv zu rechnen, wenn am siebten, werde die Wende dauerhaft und auf jeden Fall mit Schweiß verbunden sein.

Als die Wende dann am sechsten Tag eintrat, änderte Sextus seine Ernährung und wollte damit Galens Prognose widerlegen. Doch am 14. Krankheitstag bekam er erneut Fieber, informierte Galen jedoch zunächst nicht. Erst als das Fieber zunahm, wurde Galen hinzugezogen. Galen prognostizierte, dass das starke Fieber noch drei Tage anhalten und die Wende am 17. Tag eintreten werde. Diese Prognose bestätigte sich, und der rettende Schweißausbruch trat wie vorhergesagt ein.

Die Mandelentzündung des Prinzen Commodus

Commodus (Sohn Mark Aurels, römischer Kaiser 180–192 n. Chr.) bekam nach dem Besuch der Ringschule hohes Fieber. Galen tastete den Puls und vermutete eine Entzündung. Nach Untersuchung des Mundes stellte er fest, dass die Mandeln gerötet, aber nicht stark geschwollen waren. Peitholaos, der Kammerdiener, hatte Commodus mit einer Mischung aus Honig und Rhus eingerieben. Galen empfahl stattdessen Honigsaft und abgekochte Rosen. Nach Anwendung dieser Behandlung besserte sich der Zustand des Jungen, das Fieber ging zurück und die Entzündung klang ab.

Analyse

Den Fallbeschreibungen des Corpus Galenicum schenkt die historische Forschung seit langem große Aufmerksamkeit. Die lange Liste der Analysen und Kommentare zu den Krankengeschichten und thematisch verwandten Abschnitten demonstriert eindrucksvoll, dass die Fallbeschreibungen als Favoriten unter den Sujets der galenischen Realienforschung gelten und für Biographie, Medizin- und Sozialgeschichte bis ins Detail ausgewertet wurden und werden.

Es liegt in der Natur persönlicher Mitteilungen des Arztes, dass Fallbeschreibungen wie die in den Werken Galens in der Regel unter der fehlenden Bestätigung durch andere Gewährsleute oder unabhängige Quellen leiden. Die meisten der von ihm beschriebenen Erkrankungen hat Galen selbst diagnostiziert, die meisten der von ihm erwähnten Behandlungen selbst durchgeführt oder miterlebt; Kasuistiken, die er aus zweiter und dritter Hand erhalten hat, sind in der Minderzahl.

Weder wurden die Tätigkeitsberichte Galens aus seiner beruflichen Praxis später in nennenswertem Umfang zitiert oder kommentiert, noch kennt man die Quellen der Sekundäranekdoten in allen Details. Immerhin unterscheidet er ausdrücklich und systematisch zwischen eigenen Leistungen und denen seiner Kollegen. Das Bemühen um diese Art der Differenzierung ist ein Hinweis auf die Glaubwürdigkeit der autobiographischen Angaben innerhalb der Kasuistiken. In manchen Fällen dominieren hingegen Argumente, die eher Skepsis nähren und Anlass zu einer zurückhaltenden Beurteilung geben.

Viele Medizinhistoriker haben eine Reihe von Details der beruflichen Tätigkeit, die Galen festgehalten und literarisch verarbeitet hat, bereitwillig in den Fundus ihres Quellenmaterials integriert. Bei der Fülle und Vielfalt der Beschreibungen und Deutungen schienen gewisse Übertreibungen und manche eindeutig zweckbestimmte Passagen nicht so ins Gewicht zu fallen, dass man die Seriosität der historischen Analyse insgesamt bedroht sah. Systematische Verzerrungen in der Darstellung der Fakten hatte man Galen jedenfalls nicht nachweisen können. Die Forschung sah also keinen Grund, sich von punktueller Schönfärberei davon abhalten zu lassen, unter den literarischen Fassaden nach den historischen Fundamenten zu suchen. Wenn man das Corpus Galenicum aus diesem Blickwinkel betrachtet, sind die rhetorischen Ausschmückungen nicht ein Hindernis, sondern vielmehr eine zusätzliche Herausforderung an die Analyse und kritische Beurteilung der Fallberichte und ihres Beitrags zur Karriere Galens.

Die Aufmerksamkeit galt zunächst der örtlichen und zeitlichen Zuordnung der Kasuistiken zu den Stationen in Galens Leben und der Präzisierung der biographisch bedingten Unterschiede und Entwicklungslinien. Im Zuge dieser Untersuchungen konnten die Merkmale der pergamenischen und der römischen Praxistätigkeit herausgearbeitet werden. Danach wandte man sich der soziologischen Differenzierung der Patienten und der Beurteilung der aktiv und passiv in die Behandlungsfälle eingebundenen ärztlichen Kollegen zu. Erschöpfend untersucht wurden die Übereinstimmungen und Widersprüche zwischen den Ansichten Galens und denen der Wettbewerber über die Diagnose, Therapie und Prognose der zahlreichen beschriebenen Krankheitsbilder. Immer wieder wurde auch versucht, die antiken Krankheitsbezeichnungen mit den modernen Krankheitsnamen abzugleichen, um an die nosologischen Kenntnisse des modernen Lesers zu appellieren – obwohl das Prinzip der retrospektiven Diagnostik von vielen Seiten immer wieder in Frage gestellt wird.

Fazit für die Praxis

Die Lektüre der Fallberichte zeigt, dass Galen sowohl eine Autorität auf dem Gebiet der Kinderheilkunde als auch ein in der römischen Öffentlichkeit angesehener Praktiker war. Die pädiatrischen Kasuistiken erlauben unerwartete Einblicke in den Grenzbereich zwischen Physiologie, Therapie und medizinischer Ethik. Aber auch wenn Galen in seinen Patientenberichten die systematische Beobachtung vorbildlich gepflegt hat, ist es ihm nicht gelungen, damit ein generell anwendbares Schema für die literarische Präsentation diagnostischer, therapeutischer und prognostischer Mitteilungen zu schaffen. Umso lohnender ist der Vergleich der Kasuistiken Galens mit denen sowohl seiner Vorgänger als auch der Zeitgenossen und Nachfolger in der Medizin der griechisch-römischen Antike.

Autor: Dr. med. Werner Golder

Bildquelle: © Erman Gunes– stock.adobe.com

Schlagworte zu diesem Beitrag

Weitere Beiträge zu diesem Thema

Aktuelle STIKO-Empfehlung zur Meningokokken-Impfung: Warum alles anders?

Fachartikel

Die STIKO empfiehlt seit Ende Oktober die MenACWY-Impfung bereits für ­Kinder ab zwölf Jahren. Als Zeitpunkt bietet sich hierfür die routinemäßige J1-Vorsorgeuntersuchung an. Die ­STIKO erhofft sich dadurch ­Populationseffekte, durch die auch ­ältere Menschen geschützt werden. ­
Bei der ACWY-Impfung für Kleinkinder sieht die STIKO dagegen keinen Handlungs­bedarf.

Allgemeinmedizin

Impfen und Infektionen

Beitrag lesen
Farbenfrohe Aquarellmalerei zeigt eine vielfältige Gruppe von Menschen am Internationalen Tag der Menschen mit Behinderung, am Tag der Behinderung, in der Welt auf Rollstühlen, am Tag der Autismusaufklärung und im Gesundheitswesen

Behandlung von Menschen mit Beeinträchtigungen – Teil 1

Fachartikel

Die medizinische Versorgung von Menschen mit schweren Beeinträchtigungen 
konfrontiert Fachpersonen regelmäßig mit komplexen ethischen Fragen. Im Zentrum steht die Entscheidung, welche Behandlungen gerechtfertigt und sinnvoll sind – ­insbesondere dann, wenn ...

Allgemeinmedizin

Psyche und Nerven

Beitrag lesen
elektronische patientenakte als grafik vor notebook

ePA: Was man jetzt 
beachten sollte

Praxiswissen

Seit Oktober 2025 muss die elektronische Patientenakte (ePA) gesetzlich verpflichtend eingesetzt werden.

Allgemeinmedizin

Sonstiges

Beitrag lesen