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Wenn das ärztliche Attest zur chronischen Krankheit führt: Herausforderung – Schulvermeidung

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Wenn das ärztliche Attest zur chronischen Krankheit führt: Herausforderung – Schulvermeidung

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mgo medizin

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10 MIN

Erschienen in: Der Allgemeinarzt

Schulverweigerung ist ein komplexes Problem, das oft mit psychischen und sozialen Schwierigkeiten verbunden ist. Häufige Attestanforderungen durch Schulen belasten die medizinischen Praxen unnötig, da elterliche Entschuldigungen meist ausreichen. Eine frühzeitige hausärztliche und ggf. psychotherapeutische Intervention ist entscheidend, um negative Auswirkungen auf die Entwicklung der betroffenen Kinder zu verhindern.

In der Diskussion um Schulverweigerung und die Rolle ärztlicher Atteste zeigt sich eine komplexe Problematik, die sowohl medizinische als auch pädagogische Aspekte umfasst. Ärzt*innen stehen häufig vor der Herausforderung, zwischen berechtigtem Fernbleiben und unkritischer Attestvergabe zu unterscheiden, während Schulabsentismus insbesondere in Übergangsphasen der Schulkarriere zunimmt. Eine ganzheitliche Betrachtung, die sowohl körperliche als auch psychosoziale Faktoren einbezieht, ist unerlässlich, um den Kreislauf von Symptomen und Schulverweigerung zu durchbrechen und langfristige negative Folgen zu vermeiden.

Beispiele aus der Praxis

Der neunjährige Leon wird von seiner Mutter vorgestellt. Leon klage häufig über Kopf- und Bauchschmerzen und könne die Schule dann nicht besuchen. In den letzten vier Wochen hatte er insgesamt zehn Fehltage.

Marvin, 15 Jahre alt, kommt am Montagabend in die „offene Sprechstunde“ (Sprechstunde ohne Termin). Er habe heute Morgen nicht in die Schule gehen können, da er in der Nacht mehrmals Durchfall und Erbrechen gehabt habe. Es gehe ihm jetzt wieder besser. Er braucht ein Attest für die Schule.

Die Mutter von Anna, 16, ruft an und bittet um ein Attest für vergangenen Mittwoch. Anna hätte da eine Klausur schreiben sollen, wäre aber wegen Übelkeit und „Kreislauf“ nicht in der Lage gewesen, die Schule zu besuchen.

Diese drei Beispiele sind reale Fälle aus meiner Praxis. Attestanfragen wegen Schulfehlzeiten und/oder Abklären von somatischen Symptomen, die den Schulbesuch verhindern, gehören zum Alltag von Kinder- und Hausarztpraxen. Für viele Kolleginnen sind diese Attest-Begehren ein rotes Tuch: Es ist vielen unklar, ob ein Attest tatsächlich erforderlich ist oder nicht doch die elterliche Entschuldigung ausreicht. Darf man ein Attest nach telefonischer Konsultation ausstellen, ohne das kranke Kind gesehen zu haben? Und was ist, wenn wir als Ärztinnen das Kind als gesund genug für den Schulbesuch sehen, die Eltern oder die Schule aber auf das Attest bestehen? Das volle Wartezimmer lässt wenig Zeit für ein Gespräch darüber, ob es immer sinnvoll ist, dem Kind bei Befindlichkeitsstörungen oder Unwohlsein das Fernbleiben vom Unterricht zu ermöglichen.

Folgen von Schulvermeidung

Natürlich steckt bei weitem nicht hinter jeder Attestanfrage ein Schulvermeider. Allerdings ist das Phänomen des schulvermeidenden Verhaltens in den letzten Jahren ein eklatantes Problem geworden – und häufig sind haus- oder kinderärztliche Atteste Teil des Problems. Es gibt unter den Schulabbrechern/Schulvermeidern, die sich in Behandlung begeben und später mit Mühe einen Schulabschluss nachholen wollen, viele Beispiele von jahrelanger unkritischer ärztlicher Attestierung von krankheitsbedingter Schulunfähigkeit. Umgekehrt kommunizieren viele Schulen nicht mit Eltern und/oder Ärzt*innen über eine begründete Attestpflicht und den Umgang damit.

Schulabsentismus, auch Schulvermeidung genannt, tritt in relevantem Ausmaß bei ca. 5–10% der Schulkinder auf. Häufig finden wir es in sogenannten Schwellensituationen: bei Schuleintritt mit sechs Jahren, beim Schulwechsel mit zehn bzw. zwölf Jahren und in der Pubertät.

Schulabsentismus – ein Symptom, keine Diagnose

Ein problematischer Schulabsentismus besteht bei Fernbleiben von mindestens 25% des Unterrichts in den letzten 14 Tagen oder mindestens elf Tagen in den letzten 15 Schulwochen. Schulabsentismus ist ein Symptom, keine Diagnose und umfasst neben dem Fernbleiben von der Schule bei schweren somatischen Erkrankungen eben auch das Fernbleiben wegen Schulvermeidung und Schulschwänzen. Die Grafik (oben) versucht eine Begriffsbestimmung des Schulabsentismus und seiner Zuordnung zu verschiedenen Problemkonstellationen. Schulabsentismus betrifft alle Schulformen. In einer Untersuchung aller Schulen einer nordrhein-westfälischen Stadt zeigte sich, dass mehr als zehn unentschuldigte Fehltage im Schuljahr 2012/13 auftraten bei:

  • 11,9% Grundschüler*innen
  • 24,5% Hauptschüler*innen
  • 13,7% Realschüler*innen
  • 7,3% Gymnasiast*innen
  • 34,7% Förderschüler*innen

Tatsächlich gibt es wenige repräsentative Daten zum Ausmaß der Schulvermeidung, was nicht nur an dem Föderalismus der Bildungspolitik liegt, sondern auch an großen Unterschieden in der Verlässlichkeit von Fehltage-Dokumentationen in den Schulen. Auch wenn das aktive Schulschwänzen – also das Fernbleiben von der Schule ohne Kenntnis der Eltern – ebenfalls mit psychischen Problemen wie Störungen des Sozialverhaltens oder Drogenkonsum assoziiert sein kann, ist diese Gruppe eher die Domäne von Schule, Sozialarbeiter und Jugendamt. Uns interessieren hier die Schulverweigerer, die mit körperlichen oder psychischen Symptomen bei uns aufschlagen.

Hintergründe von Schulverweigerung komplex

Präsentiert sich ein Kind – wie hier Leon – mit länger andauernder unspezifischer somatischer Symptomatik (sehr häufig: Bauch- und Kopfschmerzen), sollte man bei der Anamneseerhebung nicht nur das zeitliche Muster der Beschwerden erfragen (Schultage, morgens und abends), sondern auch aktiv nach Fehltagen oder danach fragen, ob das Kind wegen der Beschwerden von der Schule abgeholt werden muss. Unsere Aufgabe ist es, die körperlichen Symptome ernst zu nehmen und abzuklären, gleichzeitig jedoch die psychosoziale Anamnese zu erheben. Neben der Ganzkörperuntersuchung sowie anderer diagnostischer Schritte wie Labor und Sono sollte mit den Eltern der Umgang mit dem schulvermeidenden Verhalten besprochen werden: kann ein Kind morgens nicht zur Schule gehen, darf es nicht mit großzügigem Bildschirmmedienkonsum „belohnt“ werden. Auch nachmittägliche Aktivitäten wie Sport, Verabredungen o.ä. sollten gestrichen werden, nach dem Motto: wer zu krank für die Schule ist, ist auch zu krank für das Fußballtraining. Den Eltern sollte der Kontakt zur Schule empfohlen werden, um eventuelle schulische Konflikte (Leistungsstress, Über-/Unterforderung, fehlende Freundschaften) zu erkennen. Ebenso sollte die familiäre Situation (Trennung der Eltern, psychische Erkrankungen in der Familie u.a.) erfragt werden.

Mit dem Kind bzw. dem/der Jugendlichen sollten handlungsorientierte Gespräche geführt werden. Nach Abklärung einer organischen Ursache der Beschwerden sollte es nicht mehr um die Frage „Warum sind jetzt die Bauchschmerzen da?“ gehen, sondern vielmehr um die Frage nach einer Strategie: „Was tut mir gut, wenn ich Bauchschmerzen habe? Kann ich das, was ich zu Hause dagegen tue, auch in der Schule machen?“ Beispielhaft könnte ein Körnerkissen mitgenommen und nach Absprache mit der Schule dort erwärmt werden. Gegen Kopfschmerzen hilft häufig frische Luft, ausreichend Flüssigkeit und vielleicht etwas Bewegung auf dem Schulhof.

Strategien helfen dem Kind, selbstwirksam gegen Befindlichkeitsstörungen anzugehen. Die Erfahrung der Selbstwirksamkeit wiederum stärkt das Selbstbewusstsein und fördert die Ressourcen für zukünftige Konfliktsituationen. Ziel all dieser Maßnahmen muss immer der regelmäßige Schulbesuch sein. Den Eltern sowie altersentsprechend dem Kind bzw. dem Jugendlichen muss vermittelt werden, dass nach somatischer Abklärung eine weitere Krankschreibung unbedingt vermieden werden muss. Der Teufelskreis von körperlichen Symptomen und Schulverweigerung wird ansonsten nicht durchbrochen. Ebenso wird die Chronifizierung funktioneller Störungen durch weitere Diagnostik und Schulabsentismus begünstigt, die wiederum häufig in eine bis ins Erwachsenenalter reichende psychische Erkrankung führen können.

Medienkonsum

Nicht unerwähnt bleiben darf in diesem Zusammenhang das große Problem der pathologischen Mediennutzung in Form von Internet Gaming Disorder oder auch die pathologische Nutzung von social media: 11,1% und 4,3% der 10–17-jährigen Jugendlichen erfüllten in einer Studie 2023 die Kriterien des riskanten bzw. pathologischen Internetgamings. Nach den Kriterien der WHO beinhaltet die pathologische Mediennutzung unter anderem eine „signifikante Störung persönlicher, familiärer, sozialer, die Bildung/Ausbildung/den Beruf betreffender bzw. anderer wichtiger Funktionsbereiche“. Wie hier im Fall Marvin ist es daher immer sinnvoll, bei häufigen Attestwünschen nach dem Medienkonsum zu fragen. Bei Fortbestehen der Symptomatik und weiter anhaltenden Fehlzeiten, sollte dringend eine kinder- und jugendpsychotherapeutische Therapie in Angriff genommen werden. Gelingt der Schulbesuch auch nicht partiell innerhalb von zwei Monaten, wird eine (teil)stationäre kinder- und jugendpsychiatrische Behandlung dringend empfohlen.

Folgen fortbestehender Schulverweigerung

  • Häufig Zunahme des Medienkonsums
  • Familiäre Konflikte
  • Je länger der Schule fern, desto schwieriger der Wiedereinstieg
  • Chronifizierung der ggf. Zugrunde liegenden psychischen Erkrankung (Depression, Angst)
  • Defizite in Beziehungen zu Gleichaltrigen
  • Mangelnde Ausbildung sozialer Kompetenzen
  • Leistungsabfall bis hin zur Gefährdung des Schulabschlusses
  • Erhöhtes Risiko für die Entstehung chronischer Erkrankungen bis ins Erwachsenenalter (insbesondere Adipositas, Depression)

Wenn auch Studien zeigen, dass die Prävalenz psychischer Störungen bei schulvermeidenden Kindern und Jugendlichen höher ist (zwischen 24 und 88% im Vergleich zu 6,8%), sind sich Fachleute einig: Nicht jede Schulvermeidung ist Ausdruck einer psychischen Erkrankung. Aber sie hat für sich ein hohes Risiko zur Entwicklung einer psychischen Erkrankung, wenn es nicht gelingt sie zu unterbrechen.

Ärzt*innen zur Attestausstellung verpflichtet?

Der Berufsverband der Kinderärzte ging gegen das Überhandnehmen von Attestwünschen bereits an die Öffentlichkeit. In den Landes-Schul-Gesetzen bzw. -Richtlinien ist das Entschuldigungsverfahren geklärt. Für NRW, wie in vielen weiteren, wenn nicht sogar allen Bundesländern, sieht es eindeutig die Entschuldigung durch die Eltern vor – ausgenommen „bei begründeten Zweifeln“. Nicht selten wollen Schulen „auf Nummer sicher“ gehen und fordern grundsätzlich ab dem dritten Krankheitstag ein ärztliches Attest – selbst in Grundschulen. Das ist Unsinn und füllt unsere ohnehin vollen Praxen mit überflüssigen Konsultationen. Hinzu kommen die Attestgebühren, die sicher nicht von allen Eltern mal eben so gezahlt werden können.

Bei begründeten Zweifeln – sei es auffällig viele Fehlzeiten, auffälliges Versäumnismuster (immer montags) oder anderes – darf die Schule eine Attestpflicht aussprechen. Dann ist es sinnvoll, als Hausärztin nachzufragen. Denn ein psychisches Problem oder eine evtl. noch nicht diagnostizierte chronische Erkrankung sollte behandelt werden. Das reine Fernbleiben von der Schule zum „Ausruhen“ ist selten hilfreich. Hinzu kommen die motivational begründeten Schulversäumnisse, die wir nicht durch „Gefälligkeitsatteste“ unterstützen sollten. Nicht zuletzt können wir uns durch offensichtliche Gefälligkeitsatteste (z.B. rückwirkend ausgestellte) strafbar machen.

Der Fall Anna zeigt, wie kompliziert die Begleitung psychisch kranker Jugendlicher sein kann, wenn nicht alle an einem Strang ziehen. Sowohl medizinische als auch pädagogische Fachverbände fordern eine bessere Vernetzung der beteiligten Berufsgruppen. In einer Reihe von Städten gibt es inzwischen spezielle „Task-Force“-Gruppen, meist angegliedert an Schul-, Jugend- und Gesundheitsamt, die sich um chronische Schulverweigerer kümmern und auch Leitlinien für den Umgang mit diesen entwickelt haben. Es lohnt sich, im eigenen Umkreis nachzuschauen (online meist gut möglich), ob es so etwas gibt. Darüber hinaus empfiehlt sich für die hausärztliche Praxis folgendes Vorgehen bei Fragen nach Schulattesten:

  • Grundsätzlich sollten wir das unkritische Nachfragen nach Schulattesten ablehnen und dieses den Eltern gegenüber mit dem Landesschulgesetz begründen. Die Entschuldigung der Eltern muss reichen – sie haben die Erziehungskompetenz und können beurteilen, ob ihr Kind krank ist.
  • Keine wiederholten Krankschreibungen bei funktionellen Beschwerden (nach somatischer Abklärung!)
  • Bei Attestpflicht: klare Absprachen über Bedingungen der Attestausstellung treffen
  • Verbot von Bildschirmmedien an „kranken“ Tagen
  • Erhalt der Tagesstruktur
  • Bei länger anhaltendem Schulabsentismus: ambulante bzw. stationäre Psychotherapie

Fazit

Abschließend lässt sich sagen, dass der Umgang mit Schulverweigerung und die Ausstellung von Attesten eine sorgfältige Abwägung erfordern, die sowohl die gesundheitlichen als auch die psychosozialen Bedürfnisse der Kinder berücksichtigt. Eine enge Zusammenarbeit zwischen Eltern, Schulen, Hausarztpraxen sowie ggf. Jugend- und Schulamt ist entscheidend, um individuelle Lösungen zu finden und den regelmäßigen Schulbesuch zu fördern. Durch frühzeitige Interventionen und eine gezielte Unterstützung können langfristige negative Auswirkungen auf die schulische und psychosoziale Entwicklung der Kinder vermieden werden.

Autorin: Lisa Degener

Bildquelle:© shocky – stock.adobe.com

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