Hausärztinnen sind wichtige Bezugspersonen für junge Patientinnen, auch wenn es um Sexualität geht. Doch obwohl Jugendliche offen für Gespräche zu sexualitätsbezogenen Themen sind, wird dieses Potenzial im Praxisalltag bisher selten ausgeschöpft. Dabei bietet gerade der hausärztliche Rahmen wertvolle Chancen für Prävention, Aufklärung und Unterstützung.
Sexualität umfasst mehr als sexuelle Handlungen. Die WHO definiert Sexualität als „… a central aspect of being human throughout life encompasses sex, gender identities and roles, sexual orientation, eroticism, pleasure, intimacy and reproduction.” In dieser Definition stecken zwei Kernbotschaften: Zum einen, dass Menschen ihr Leben lang („throughout life“) sexuelle Wesen sind. Zum anderen, dass Sexualität auch Aspekte wie die körperliche Entwicklung, das Entdecken eigener Bedürfnisse, das Erleben von Beziehungen sowie die Entwicklung von Geschlechtsidentität und sexueller Orientierung beinhaltet. Für viele Jugendliche ist die Pubertät eine Zeit intensiver Auseinandersetzung mit sich selbst, dem eigenen Körper und der eigenen Sexualität. Genau deshalb sind sie eine zentrale Zielgruppe für Themen der sexuellen Gesundheit. Auch aus medizinischer Sicht ist Sexualität relevant: Krankheiten, Medikamente oder psychische Belastungen können die sexuelle Entwicklung beeinflussen. Eine Anamnese kann ohne Einbezug sexueller Gesundheit unvollständig bleiben. Umso wichtiger ist es, dass sexualitätsbezogene Fragen selbstverständlich ihren Platz im Gespräch in der hausärztlichen Praxis finden – auch mit Jugendlichen.
Ärzt*innen als Teil sexueller Bildung
Sexuelle Bildung ist ein Menschenrecht. Die WHO und das Bundesinstitut für Öffentliche Gesundheit (ehemals BZgA) verstehen sexuelle Bildung als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe – an der auch Ärztinnen beteiligt sind. Doch die Jugendsexualitätsstudie 2019 zeigt: Dieses Potenzial wird bislang kaum ausgeschöpft. So nennen nur 12 % der befragten Mädchen ihren Ärztin als Ansprechperson für sexuelle Fragen – bei den Jungen sind es lediglich 2 %. Ein Grund für den deutlichen Geschlechterunterschied ist möglicherweise, dass Mädchen häufiger an sexualitätsbezogene ärztliche Gespräche gewöhnt sind, zum Beispiel im Rahmen gynäkologischer Untersuchungen oder bei der Verschreibung von Verhütungsmitteln. Für Jungen hingegen fehlt eine vergleichbare ärztliche Routine. Unabhängig vom Geschlecht wird anhand der Jugendsexualitätsstudie deutlich: Ärztinnen sind oft die einzigen erwachsenen Ansprechpersonen außerhalb des familiären oder schulischen Umfelds. Damit können sie eine zentrale Rolle übernehmen, vor allem bei Fragen, die im Nahbereich als zu heikel empfunden werden, etwa aus Scham oder aus Angst vor Zurückweisung.
Sexuelle Gesundheit umfasst weit mehr als die Abwesenheit von Krankheiten oder Funktionsstörungen. Sie beschreibt ein ganzheitliches Wohlbefinden, körperlich, emotional, geistig und sozial. Dazu gehören auch Gespräche über Sexualität, die frei von Zwang, Diskriminierung und Gewalt geführt werden können. Die hausärztliche Versorgung kann hierfür einen wichtigen Beitrag leisten, indem sie Räume schafft, in denen solche Gespräche möglich und selbstverständlich sind.
Gesprächsanlässe
Hausärzt*innen begegnen Jugendlichen zu unterschiedlichen Anlässen:
- Allgemeinärztliche Untersuchungen, Behandlungen und Beratungen, auch zu Impfungen (z. B. HPV)
- J1– und J2-Untersuchung
- STI-Screening
Diese Situationen bieten einen niedrigschwelligen Einstieg, um sexualitätsbezogene Themen anzusprechen. So können etwa körperliche Beschwerden, Veränderungen in der Pubertät, Fragen zu Verhütung, Menstruation, Libido oder Erektion sowie Themen rund um sexuelle Orientierung oder geschlechtliche Identität zur Sprache kommen. Damit ein vertrauensvolles Gespräch gelingen kann, braucht es gute Voraussetzungen. Zwar wurden die meisten Studien zur Offenheit gegenüber sexualitätsbezogenen Fragen mit erwachsenen Patientinnen durchgeführt, ihre Ergebnisse können aber Hinweise liefern, die auch für die Gesprächsführung mit Jugendlichen relevant sind: 95 % der Befragten empfinden es als normal, wenn Ärztinnen Fragen zum Sexualleben stellen und 60 % wünschen sich sogar mehr davon.
Und was ist mit den Eltern?
Die Anwesenheit von Eltern kann Gespräche über Sexualität verhindern oder erschweren – sowohl für Jugendliche als auch für Ärztinnen. Oft besteht Unsicherheit darüber, welche Behandlungen bei Patientinnen unter 18 Jahren auch ohne elterliches Einverständnis möglich sind. Grundsätzlich gilt: Die jugendliche Person ist Ihre Patientin, nicht die Eltern. Sie steht im Zentrum der Behandlung. Ein vertrauliches Beratungsgespräch ist immer möglich, auch ohne elterliche Begleitung. Bei medizinischen Behandlungen wie Impfungen, der Verschreibung von Verhütungsmitteln oder einem STI-Screening ist in der Regel die Einwilligung der Eltern erforderlich. Allerdings können Jugendliche im Einzelfall selbst einwilligungsfähig sein. Ärztinnen dürfen – und sollen – dann eigenständig beurteilen, ob die Person die Tragweite der Maßnahme versteht und selbstbestimmt entscheiden kann. Ist dies der Fall, darf die Behandlung auch ohne Zustimmung oder Information der Eltern erfolgen.
Wie komme ich ins Gespräch?
Um Jugendlichen das Sprechen über Sexualität zu erleichtern, können sogenannte „Eisbrecherfragen“ helfen. Sie signalisieren Offenheit und laden zum Gespräch ein. Diese Einstiege sollten immer mit einem Hinweis auf die Vertraulichkeit verbunden werden: „Was du mir sagst, bleibt unter uns. Ich unterliege der Schweigepflicht.“ Dabei ist eine altersgerechte Sprache entscheidend. Nicht alle Jugendlichen wissen, was „Schweigepflicht“ genau bedeutet. Eine kurze Erklärung kann hier helfen, Gesprächsbarrieren abzubauen.
Beispiele für Eisbrecherfragen:
- „Habt ihr in der Schule schon mal über Verhütung gesprochen?“
- „Gibt es etwas, das du mich noch fragen möchtest?“
- „Hast du eine Freundin oder einen Freund? Wie handhabt ihr das Thema Verhütung in eurer Beziehung?“
- „Falls du mit jemandem über sexuelle Themen sprechen willst – ich bin da.“
Sprachliche Unterschiede zwischen medizinischem Fachvokabular und Jugendsprache können Gespräche erschweren – auf beiden Seiten. Bei Unsicherheiten ist es hilfreich, als Ärzt*in aktiv nachzufragen: „Wie meinst du das genau?“ oder „Magst du mir das noch einmal anders erklären?“ So entstehen Verständigung und Vertrauen.
Fazit
Sexualitätsbezogene Gespräche gehören in die hausärztliche Praxis. Jugendliche haben ein Recht auf Information und Unterstützung. Dies gilt auch für sexualitätsbezogene Fragen. Als Hausärzt*in sind Sie oft eine der wenigen erwachsenen Ansprechpersonen außerhalb des familiären oder schulischen Umfelds.
Indem Sie aktiv Gesprächsanlässe schaffen, leisten Sie einen Beitrag zu sexueller Gesundheit, stärken das Vertrauen Ihrer Patientinnen und machen Ihre Praxis zu einem sicheren Ort für alle Fragen, die Jugendliche sonst vielleicht niemandem stellen. Um Ärztinnen mehr Sicherheit in diesen Gesprächen zu vermitteln, bietet die Deutsche Aidshilfe mit dem Projekt „Let’s talk about sex“ kostenfreie Kommunikationstrainings für Ärzt*innen, Praxisteams und Qualitätszirkel an.
Autoren: Charlotte Kunath, Prof. Dr. med. Armin Wunder
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