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Entscheidungskompetenzen mit Boosts stärken

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Erschienen in: neuro aktuell

Angesichts wachsender globaler Herausforderungen wie Klimawandel, Pandemien und der Bedrohung demokratischer Werte werden bisherige verhaltenswissenschaftlich informierte Politikansätze zunehmend hinterfragt. Der einst dominierende Nudging-Ansatz, der Menschen zu besseren Entscheidungen „schubsen” sollte, steht in der Kritik, da er u.a. individuelle Autonomie zu wenig fördert. Als Antwort darauf gewinnen Boosts an Bedeutung. Diese Interventionen sollen Entscheidungs- und Selbstkontrollkompetenzen des Einzelnen fördern, wie Wissenschaftler des MPI für Bildungsforschung im Journal Annual Review of Psychology – einem der meistzitierten Fachjournale in der Psychologie – darlegen. Im Gegensatz zum Nudging basiert das Boosting auf der empirisch belegten Annahme, dass Menschen zu deutlich besseren Entscheidungen fähig sind, als oft vermutet. Statt Verhalten nur zu lenken, geht es beim Boosting darum, Menschen zu stärken, indem ihre Fähigkeiten zur Selbstkontrolle und Entscheidungsfindung in einer immer komplexeren Welt gefördert werden. „Die Herausforderungen, vor denen wir heute stehen, erfordern mehr als subtile Anstöße. Beim Boosting geht es darum, Menschen in die Lage zu versetzen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen und Entscheidungen zu treffen, die sowohl für sie selbst als auch für die Gesellschaft von Vorteil sind“, sagt Stefan Herzog, Senior Researcher im Forschungsbereich Adaptive Rationalität am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Gemeinsam mit Direktor Ralph Hertwig hat er einen frei zugänglichen Übersichtsartikel zum Thema Boosting verfasst, der zeigt, warum die Ziele von Befähigung, Aktivierung und Mündigkeit in dem Bemühen der Politik, Verhalten zu steuern, so dringlich sind (siehe auchscienceofboosting.org für weitere Beispiele von Boosts). Die Wissenschaftler argumentieren, dass wir in einer starkkommerzialisierten und häufig manipulativ gestalteten Umwelt leben, die von Fast Food bis Social Media darauf ausgerichtet ist, menschliches Verhalten auszunutzen und zu beeinflussen – häufig zum Vorteilkommerzieller Interessen und zum Leid sowohl der einzelnen Menschen als auch dem Gemeinwohl. Hier stößt Nudging an Grenzen, da es oft keine dauerhafte oder robuste Widerstandskraft gegen solche Einflüsse vermittelt. „Unsere Konsumumgebung ist darauf ausgelegt, unsere natürlichen Tendenzen auszunutzen,“ erklärt Stefan Herzog. „Boosting ist essenziell, weil es Menschen dabei hilft, die Fähigkeiten zu entwickeln, diese manipulativen Kräfte zu navigieren und ihnen zu widerstehen,“ so Herzog weiter. Boosting konzentriert sich darauf, grundlegende Kompetenzen zu entwickeln, die in der heutigen, stark gestalteten Welt erforderlich sind. Ein Beispiel dafür ist die Vermittlung von Grundkenntnissen in Statistik die helfen, Wahrscheinlichkeiten besser zu verstehen, oder das Training im „lateralen Lesen“ – einer Technik, mit der Faktenprüfer die Glaubwürdigkeit von Online-Informationen durch Quellenanalysebewerten. Eine einfache und wirkungsvolle Möglichkeit, Boosting und Nudging zu kombinieren, sind sogenannte „Self-Nudges“ („Selbst-Anstupser“). Dabei werden Menschen befähigt, in Eigenregie ihre unmittelbare Umgebung so umzugestalten, dass sie ihre Ziele besser erreichen können. Zum Beispiel können sie ihre Selbstkontrolle bei ungesunder Ernährung verbessern, indem sie lernen, verlockende Lebensmittel bewusst außer Reichweite zu platzieren. Obwohl Boosting klare Vorteile bietet, betonen die Autoren, dass es in einem umfassenden Politikmix verankert sein sollte. Um die komplexen Herausforderungen kommerzieller und manipulativer Umgebungen zu bewältigen, seien weiterhin Systemveränderungen, wie Anreize und Regulierungen, notwendig. Diese Veränderungen sind jedoch oft langsam oder werden in der Gesellschaft kontrovers diskutiert. Deshalb ist es wichtig, die Menschen in der Zwischenzeit mit den Fähigkeiten auszustatten, ihre Autonomie zu schützen. Die Wissenschaftler unterstreichen zudem, dass Boosting sorgfältig umgesetzt werden muss. Politische Entscheidungsträger sollten darauf achten, kommerzielle Akteure nicht aus der Pflicht zu nehmen und zu viel Verantwortung auf Einzelpersonen zu übertragen. Beispielsweise haben sozioökonomisch schlechter gestellte Menschen oft weniger finanzielle und zeitliche Ressourcen, um sich mit Angeboten wie Boosting auseinanderzusetzen, was die Gefahr birgt, bestehende Ungleichheiten zu verschärfen. „Boosting muss für alle anwendbar und fair sein”, sagt Ralph Hertwig, Direktor im Forschungsbereich Adaptive Rationalität des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung. „Unser Ziel sollte es sein, allen Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit zu geben, die Fähigkeiten zu entwickeln, die sie benötigen, um sich in der heutigen Welt erfolgreich zurechtzufinden. Und Boosts haben das Ziel, unser aktives Entscheiden und autonome Handeln zu unterstützen, weil beides wesentlich zu unserem Wohlbefinden, Lebenszufriedenheit und Gesundheit beiträgt“, so Hertwig weiter. Originalpublikation: Herzog S M & Hertwig R. Boosting: Empowering citizens with behavioral science. Annual Review of Psychology 2025; 76: 851–81 Quelle: Pressemitteilung des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung Bildquelle:© Vitalii Vodolazskyi – stock.adobe.com

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