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Wie das Gehirn den Verlust von Nervenzellen kompensiert

Neuronales Netzwerk mit elektrischen Signalen, dreidimensional dargestellt

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Erschienen in: neuro aktuell

Forschende des Instituts für Physiologie der Universitätsmedizin Mainz haben entschlüsselt, wie das Gehirn in der Lage ist, seine Funktion bei einem Verlust von Nervenzellen weitestgehend aufrechtzuerhalten. Bei Untersuchungen im Tiermodell fand das Team heraus, dass sich neuronale Netzwerke in der Großhirnrinde innerhalb eines kurzen Zeitraums reorganisieren, indem andere Nervenzellen die Aufgaben der verlorenen Neuronen übernehmen. Diese neuen Erkenntnisse könnten die Grundlage für zukünftige Forschung zu natürlichen Alterungsprozessen und neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer oder Parkinson bilden. Die Studie wurde jetzt in Nature Neuroscience veröffentlicht.

Während die meisten Körperorgane alte oder beschädigte Zellen regelmäßig durch neue ersetzen, um ihre Organfunktion aufrechtzuerhalten, können sich im Gehirn neue Neuronen nur in bestimmten Regionen bilden. Im Kortex, der auch als Großhirnrinde bezeichneten Hirnregion, die für komplexe Denkprozesse und die Wahrnehmung verantwortlich ist, ist die Fähigkeit zur Neubildung von Nervenzellen im Erwachsenenalter sehr eingeschränkt. „Dennoch zeigt sich die kortikale Gehirnfunktion in klinischen Untersuchungen oft überraschend widerstandsfähig gegenüber einem Neuronenverlust, der im Verlauf des Alterns oder bei neurodegenerativen Erkrankungen entsteht“, erläutert Prof. Dr. Simon Rumpel, Leiter der AG Systemische Neurophysiologie am Institut für Physiologie der Universitätsmedizin Mainz.

Repräsentationskarte des Gehirns

Bisher war nicht bekannt, wie das Gehirn in der Lage ist, den Verlust von Nervenzellen zu kompensieren und seine Funktion weitestgehend aufrechtzuerhalten. Um das herauszufinden, hat das Forschungsteam um Professor Rumpel im Tiermodell die neuronalen Netzwerke im Auditorischen Kortex, der für die Verarbeitung von akustischen Reizen verantwortlich ist, untersucht. Grundlage für die bewusste Wahrnehmung von Geräuschen sind Aktivitätsmuster, die im Gehirn durch Schall hervorgerufen werden. Diese neuronalen Muster werden auch als Repräsentationskarte bezeichnet.

Die Forschenden fanden heraus, dass sich die auditive Repräsentationskarte bei einem experimentell gezielt hervorgerufenen Verlust von nur wenigen spezifischen Nervenzellen zunächst destabilisierte. Dies deutet darauf hin, dass sich das für die Geräuschwahrnehmung zuständige neuronale Netzwerk prinzipiell in einer empfindlichen Balance befindet. Beobachtet wurde jedoch, dass sich bereits nach wenigen Tagen sehr ähnliche Aktivitätsmuster neu bildeten. Wie das Forschungsteam zeigen konnte, war dies darauf zurückzuführen, dass Nervenzellen, die zuvor nicht durch Schall aktiviert wurden, nun die Fähigkeit hatten, an die Stelle der verlorenen Neuronen zu treten.

Mechanismus der neuronalen Reorganisation

„Mit unseren Untersuchungen haben wir aufgedeckt, dass neuronale Netzwerke im Gehirn über ein bemerkenswertes Potenzial zur Reorganisation verfügen. Wir nehmen an, dass dieser neu entdeckte neuronale Mechanismus auch eine wichtige Rolle für den Verlust von Nervenzellen bei natürlichen Alterungsprozessen sowie bei neurodegenerativen Erkrankungen spielen könnte. Auf Grundlage unserer Erkenntnisse können zukünftige Forschungsanstrengungen darauf abzielen, diese neuronale Reorganisation zu unterstützen“, betont Professor Rumpel.


Quelle: Veronika Wagner, Johannes Gutenberg-Universität Mainz (idw)

Bildquelle:© solvod – stock.adobe.com

Originalpublikation:
Noda T, Kienle E, Eppler JB et al. Homeostasis of a representational map in the neocortex. Nature Neuroscience 2025.
https://doi.org/10.1038/s41593-025-01982-7

Kontakt:
Prof. Dr. Simon Rumpel
Institut für Physiologie
Universitätsmedizin Mainz
E-Mail sirumpel@uni-mainz.de

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