Urologie » Sonstiges

»

Künstliche Intelligenz im Tumorboard – 
Möglich­keiten, Chancen und Risken

Symbolbild © Production Perig – stock.adobe.com

Künstliche Intelligenz im Tumorboard – 
Möglich­keiten, Chancen und Risken

Fachartikel

Urologie

Sonstiges

mgo medizin

mgo medizin

Autor

9 MIN

Erschienen in: UroForum

Aus UroForum Heft 10/2024

Marcus Sondermann, Sherif Mehralivand

Das urologische Tumorboard ermöglicht durch den multidisziplinären Austausch zwischen Urologen, Onkologen, Radiologen und anderen Fachdisziplinen eine verbesserte Diagnostik und Therapie für die Patienten. Dieser Prozess hat sich insbesondere im Rahmen der Zertifizierung weiter verstärkt. Trotz des erheblichen zeitlichen Aufwands zur Vor- und Nachbereitung ermöglicht das Tumorboard qualitativ hochwertige und individuell zugeschnittene Behandlungsstrategien. Künstliche Intelligenz (KI) hat das Potenzial, die Effizienz von Tumorboards zu steigern, indem sie große Datenmengen analysiert und präzisere Diagnosen stellt.

Symbolbild © Production Perig – stock.adobe.com
Symbolbild © Production Perig – stock.adobe.com

Anwendungen in der Radiologie und Krebstherapie zeigen viel­versprechende Ergebnisse. Dennoch sind KI-Modelle zur onkologischen Entscheidungsfindung noch in der Entwicklung. Um KI erfolgreich im Tumorboard einzusetzen, sind strukturierte Tumordokumentationen und qualitativ hochwer­tige Trainingskohorten erforderlich. KI kann als Hilfsmittel dienen, um den organisatorischen Aufwand zu reduzieren und den Fokus auf die ärztliche Intervention zu legen.

Dennoch bleiben die ärztliche Bewertung und emotionale Intelligenz im Patientengespräch unerlässlich. Zusammenfassend hat KI großes Potenzial, sollte jedoch nur unterstützend wirken und kann das ärztliche Handeln nicht ersetzen.

Austausch im urologischen Tumorboard

Uroonkologische Patienten erhalten regelmäßige Vorstellungen in multidisziplinären Tumorboards. Dieser Prozess hat sich insbeson­dere im Rahmen der Zertifizierung verstärkt. Dabei liegen die Vorteile eines Tumorboards im multidis­­zi­plinären Austausch zwischen Urologen, Onkologen, Radiologen, Strahlentherapeuten, Nuklearmedizinern und Pathologen zur Verbesserung der Diagnostik und Therapie. Hier kommt es zu einem Austausch von Wissen und Erfahrungen sowie aktuellen wissenschaftlichen Daten und Studien, um präzise Behandlungsstrategien zu diskutieren, unnötige Untersuchungen zu vermeiden und den interdisziplinären Austausch zu fördern. Somit sichert das Tumorboard eine qualitativ hochwertige Diagnostik und Therapie, die auf den individuellen Patienten zugeschnitten ist [1–3]. Diese kann sowohl das progressionsfreie Überleben, das Gesamtüberleben und die Therapieverträglichkeit steigern.

Allerdings bedarf es dafür eines hohen zeitlichen Aufwands zur Vor- und Nachbereitung. Darunter zählt die übersichtliche Aufarbeitung aller Befunde, aber auch die Nachbereitung der Befunde mit entsprechender Umsetzung und Besprechung der Empfehlungen mit dem Patienten. Auch sind regionale Unterschiede in der Qua­lität der Tumorboardempfehlungen sichtbar. Dies ergibt sich aus der unterschiedlichen fachlichen Qualität der einzelnen Akteure, der strukturellen Organisation und ­Integration der Dokumentation sowie persönlichen Erfahrungen.

Hier kann eine Unterstützung durch neue Technologien wie KI-Algorithmen zu einer effizienteren Nutzung von Ressourcen bei gleichbleibender flächendeckender Therapiequalität führen [4].

Möglichkeiten der KI in der Medizin

Die Anwendbarkeit von künstlicher Intelligenz in der Medizin ist mannigfaltig [4, 5]. So können in der medizinischen Ausbildung Inhalte realistischer simuliert und an den jeweiligen Lerntyp angepasst vermittelt werden. Aber auch in der Diagnostik sind viele Applikationen denkbar. Insbesondere die Analyse großer strukturierter ­Datenmengen bietet durch die Anwendung von Deep Learning großes Potenzial.

Somit können präzisiere Diagnosen schneller gestellt werden. Es existieren beispielsweise in der Radiologie zahlreiche Anwendungen zur Interpretation von Röntgen-­Bildern und Unterstützung durch die Markierung von auffälligen ­Befunden in CTs und MRTs [6–8]. KI kann ebenso individuelle Therapiemöglichkeiten dem Patienten in angepasster Sprache erläutern und auf Fragen eingehen. Aufgrund der Vorabinformation des ­Patienten kann dann in einem ärztlichen Gespräch effizienter auf ­in­dividuelle Aspekte eingegangen wer­den. Dies führt zu einer individualisierten ­Erstellung von Behandlungskon­zepten.

Auch in der Onkologie bestehen viele neue Möglichkeiten [9]. So gibt es Tools zur Früherkennung beim Prostatakarzinom [10] und in klinischen Studien Möglichkeiten zur Steigerung der Präzision bei der robotisch-assistierten Chirurgie. Auch die Erkennung von histopathologischen Mustern ist bereits in der Entwicklung [11].

Aktuell existieren auch KI-Modelle zur Unterstützung von Arbeits­abläufen. In Bezug auf die onkologische Entscheidungsfindung sind jedoch wenige Anwendungsbeispiele bekannt. Einige Modelle, wie Watson for Oncology, konnten zwar gute Ergebnisse beim Lungenkarzinom und gastrointestinalen Tumoren zeigen. Allerdings schwanken hier die Genauigkeiten der KI mit zunehmender Komplexität des Tumors [12, 13]. Weitere Modelle konnten gute Daten für das nicht metastasierte Mammakarzinom zeigen, jedoch bleibt die Frage nach der Qualität bei komplexen Therapieentscheidungen offen [14].

Auch Large-Language-Modelle (LLM) wie ChatGPT haben eine unzureichende Aussagekraft mit zum Teil auch möglichen Falschinformationen, wie beispielsweise bei Kopf-Hals-Tumoren gezeigt wurde [15]. Dies mag allerdings am fehlenden Training dieser Modelle auf medizinische Daten und evtl. bewusste Einschränkungen der Hersteller bzgl. medizinischer Aussagen zusammenhängen.

Grundlagen für KI im Tumorboard

Zur Generierung von KI-generierten Tumorboardempfehlungen stehen verschiedene Algorithmen zur Verfügung [16, 17]. Häufig verwendete Methoden der Künstlichen Intelligenz sind Maschine-Learning-Algorithmen (ML). Diese werden in unsupervised (unüberwachtes) und supervised (überwachtes) Learning unterteilt. In beiden Fällen wird der Algorithmus an einer Trainingskohorte angelernt und anschließend an einer Testkohorte überprüft. Idealweise besteht zusätzlich eine Validierungskohorte. Für überwachte ­Modelle sind höhere Datenmengen notwendig, da der Algorithmus hier ausschließlich anhand der Variablen der Trainingskohorte angelernt wird und die Ergebnisse mit der Testkohorte vergleicht. Beim unüberwachten Lernen hingegen detektiert der Algorithmus selbstständig Muster im gesamten Datensatz und vergleicht diese mit der Testkohorte. Hier sind daher auch kleinere Kohorten möglich. Allerdings müssen die hier getroffenen Entscheidungswege nach menschlicher Logik nicht kausal sein. Generell kann die Genauigkeit eines Algorithmus durch höhere Fallzahlen der Trainings­kohorte verbessert werden.

Die einfachsten Methoden des ­­ML sind Regressionsmodelle. Diese sind in der Wissenschaft weit etabliert, jedoch auf eine begrenzte Menge an Variablen beschränkt. Häufiger verwendete Methoden des supervised ML sind der Decision Tree, der Random-Forest oder das Nearest-Neighbor Modell [18, 19]. Eine weitere Unterform des maschinellen Lernens sind Deep-Learning-Algorithmen (DL), sogenannte ­tiefe neuronale Netzwerke. Hier ­erfolgt auf mehreren Ebenen die Extraktion großer Datenmengen und selbstständige Interpretation. Daher zählen diese zum überwachten Lernen. Eine nächste Ebene der künstlichen Intelligenz sind die generativen Algorithmen (generative AI). Hier kommt es zu einer vereinfachten Darstellung der Trainingsdaten, welche zum Erstellen neuer Daten genutzt werden. Die Daten sind den ursprünglichen Daten ähnlich, aber nicht identisch. Insbesondere die Transformatormodelle haben in Produkten wie ChatGPT, Microsoft Copilot und Google Gemini an Bedeutung gewonnen.

Für die erfolgreiche Entwicklung von KI-gestützten Tumorboardempfehlung ist es sinnvoll, eine strukturierte Tumordokumentation zu etablieren. Viele Algorithmen erzielen genauere Ergebnisse, wenn die Eingabevariablen wie die TNM-Klassifikation, CT-Befunde, Pathologische Befunde, Nebenerkrankung und Laborparameter in vordefinierten Skalenniveaus erfasst werden. Auch wenn Large Language Modelle hier gute Ergebnisse erzielen können, scheinen Textbasierte Eingabefelder fehleranfällig. Die Datenqualität der Trainingskohorte bestimmt wesentlich die Aussagefähigkeit und Genauigkeit eines ­KI-Systems.

Zusätzlich wird das Trainieren eines KI-Systems umso komplexer, je mehr Szenarien involviert werden. Je spezifischer die Trainingskohorte wird, desto größer wird die Aussagekraft der KI. Allerdings sinkt hiermit auch die Generalisierbarkeit eines KI-Systems. Insgesamt besteht ein Dilemma zwischen dem Erstellen einer „Master-KI“ für ein uroonkologisches oder gar onkologisches Tumorboard und dessen Aussagekraft. Ebenso ist die Verkettung von KI-generierten Inhalten fehleranfällig, da hier Ungenauigkeiten im Ergebnis potenziert werden.

Aufgrund immer komplexerer und individuellerer Therapiealgorithmen scheint hier selbst ein einzelner Algorithmus pro Entität mit hoher Aussagekraft schwierig. Viele Algorithmen in der Erprobung beschränken sich daher aktuell auf das nicht metastasierte Setting einer Entität.
Das Trainieren des Algorithmus durch ML kann der aktuellen wissenschaftliche Empfehlungen nur zeitlich versetzt erfolgen. Insbesondere bei supervised Learning- Algorithmen sollte nach jeder Änderung einer Leitlinie ein neues Training des Algorithmus erfolgen, um die Qualität der Aussagen aufrechtzuerhalten. Dies bedeutet auch, dass gut ausgebildete Uroonkologen essenziell bleiben. Du­rch diese erfolgt die Bewertung, In­terpretation und Implementie­rung neuer wissenschaftlicher Handlungsempfehlungen, durch die eine KI ­angelernt werden kann.

Häufig ist die Versorgungsrealität außerhalb hochspezialisierter onkologischer Kliniken reduziert, was zur Unterversorgung des Patienten führt [20]. Hier kann durch das Anlernen eines Algorithmus an einer spezialisierten Klinik die Qualität des Tumorboards in der Fläche gesteigert werden. Eine KI-generierte Tumorboardempfehlung kann jedoch nur eine Hilfestellung sein und spiegelt eine mathematische Extrapolation getroffener Empfehlungen auf einen neuen Casus wider.

Die Zukunft des urologischen Tumorboards

In einer utopischen Zukunftsvorstellung könnte KI das interdisziplinäres Tumorboard enorm entlasten. Hier könnten in einem ersten Schritt alle Befunde des Patienten durch eine Software importiert, aufgearbeitet und systematisch dargestellt werden. In einem zweiten Schritt könnte ein weiteres Tool diese Befunde beurteilen und anhand aktueller wissenschaftlicher Daten und Leitlinien klassifizieren, bevor ein Therapievorschlag unterbreitet wird. Diese müsste in einem interdisziplinären Befund nur noch evaluiert werden.

Nach Bestätigung des Befundes wäre es dann wünschenswert, wenn der Tumorboard-Beschluss dem Behandler mitgeteilt und dem Patienten verständlich erläutert wird. Gleichzeitig könnten anstehende weitere diagnostische und therapeutische Maßnahmen bereits eingeleitet werden. Somit könnte der zeitliche, bürokratische und organisatorische Aufwand eines Tumorboards reduziert werden und der Patient selbst weiter in den Fokus rücken.

Hierbei bestehen jedoch potenzielle Limitationen. Auch wenn ­informatische Algorithmen große Vorteile in der rationalen und nüchternen Analyse von Inhalten haben, bestehen große Schwierigkeiten in der Erfassung und Interpretation non-verbaler Inhalte. Derzeit kann die KI keine Emotionen beurteilen [21]. Insbesondere bei der Besprechung des Tumor­boardbeschlusses und dessen ­Alternativen ist dies nachteilig. Bei onkologischen Gesprächen spielen häufig Angst, Trauer und Befürchtungen eine zentrale Rolle. Hier bedarf es für ein patientenzentriertes Gespräch einer emotionalen Intelligenz.

Daher kann in einem ärztlichen Gespräch KI nur eine Hilfestellung sein. Sie sollte niemals Ergebnisse ohne ärztliche Bewertung alleinig umsetzen [22]. Insbesondere die Bewertung der Genauigkeit einer KI und die Übertragbarkeit auf den vermeintlichen Patientenwunsch und dessen Lebensrealität sind ­essenzielle Punkte des ärztlichen Gesprächs.

Durch KI besteht jedoch das Potenzial, durch den Abbau bürokratischer und dokumentarischer Pflichten, den Fokus wieder mehr auf die ärztliche Intervention zu legen. Nicht nur ist das ärztliche Aufklärungsgespräch im BGB § 630e gesetzlich geregelt [23], das ärztliche Gespräch ist die Kernkompetenz für die Entscheidung über Therapiekonsequenzen [24, 25].

Potenzial sinnvoll umsetzen

Zusammenfassend hat KI in der Medizin, Urologie und Uroonkologie ein enormes Potenzial [26]. Durch die Steigerung von Rechenkapazitäten sind bekannte Algorithmen massentauglich geworden. Daher liegt es nun nicht alleinig an Informatikern, sondern an Medizinern und Klinikern, dieses Potenzial umzusetzen und in reale Anwendungen zu überführen.

Dabei sollte KI jedoch nur eine ­Unterstützung sein. Sie kann und wird das ärztliche Denken und Handeln nicht ersetzten können. KI kann jedoch die ärztlichen Kernkompetenzen zurück in den Fokus setzten und organisatorische, bürokratische und dokumentarische Zeitaufwände reduzieren. Somit kann wieder mehr Zeit für den Patienten genutzt werden. Dabei muss jedoch auch die Nutzung und Bewertung von KI-generierten Inhalten erlernt werden. ◼

Literatur unter www.uroforum.de

Dr. med. Marcus Sondermann
Universitätsklinikum Carl Gustav Carus an der TU Dresden AöR
Klinik und Poliklinik für Urologie
Fetscherstr. 74
01307 Dresden
Marcus.Sondermann@ukdd.de
Dr. med. Marcus Sondermann

Korrespondenzadresse

Dr. med. Marcus Sondermann
Universitätsklinikum Carl Gustav Carus an der TU Dresden AöR
Klinik und Poliklinik für Urologie
Fetscherstr. 74
01307 Dresden
Marcus.Sondermann@ukdd.de

Schlagworte zu diesem Beitrag

Weitere Beiträge zu diesem Thema

Mann hält sich die Leiste aufgrund von Schmerzen, Symbol für Männergesundheit

Warum Peniserkrankungen ein zentrales Element der Andrologie sind

Fachartikel

Die Andrologie ist ein interdisziplinäres Gebiet, bei dem Endokrinologen, Humangenetiker, Urologen, Dermatologen, Sexual- und Reproduktionsmediziner zusammenwirken. In diesem Artikel sollen Antworten auf die Frage gefunden werden, warum Peniserkrankungen in der Andrologie ein zentrales Element darstellen.

Urologie

Sonstiges

Beitrag lesen
Analytische Ähnlichkeit zwischen dem neuen, generischen Biosimilar und dem Referenzprodukt

Zentiva: Neues Denosumab-Biosimilar im Portfolio

Pharmaservice

Zentiva, ein führender europäischer Arzneimittelhersteller, hat mit Enwylma® das erste EU-weite Denosumab-Biosimilar eingeführt. Nach EMA-Zulassung markiert dies Zentivas strategischen Einstieg in den Biosimilar-Markt und unterstützt die Mission, Patienten europaweit besseren Zugang zu hochwertigen Biologika zu bieten.

Urologie

Sonstiges

Beitrag lesen
Das Bild zeigt den stellvertretenden KBV-Vorstandsvorsitzenden Dr. Stephan Hofmeister.

KBV prangert Deprofessionalisierung der Versorgung durch „Pseudolösungen“ an

Berufspolitik

Bei der KBV-Vertreterversammlung in Berlin kritisierte Dr. Stephan Hofmeister, dass dringend nötige Strukturreformen auf sich warten lassen. Geplante Gesetzgebung bringe Praxen keine Entlastung, sondern erschwere deren Arbeit weiter. Die Forderung nach schnellen, wirksamen Reformen bleibt bestehen.

Urologie

Berufspolitik

Beitrag lesen